Essen. Rat votiert für Kündigung der Grugahalle als Parteitags-Ort, sollte die AfD sich einer Selbstverpflichtung gegen NS-Parolen verweigern.
Der Bundesverband der „Alternative für Deutschland“ (AfD) hat am Mittwoch über eine Anwaltskanzlei versucht, noch in letzter Minute jenen Ratsbeschluss zu verhindern, mit dem die Stadt Essen der Partei androht, die angemietete Grugahalle zu kündigen. Diese Kündigung gilt für den Fall, dass die AfD nicht bereit ist, eine strafbewehrte Selbstverpflichtung zu unterschreiben. Sie soll sicherstellen, dass die Partei strafbare Äußerungen auf dem anstehenden Bundesparteitag Ende Juni verhindert oder zumindest „unverzüglich und wirksam“ unterbindet. Die Mail der Kanzlei Hoecker aus Köln kam just zum Start der Ratssitzung um 15 Uhr, aber sie war vergeblich: Der Rat entschied mit großer Mehrheit, genau diesen Schritt zu gehen.
Eine geheime Abstimmung, um die Entscheidung nicht persönlich zuordnen zu können
Er tat dies in geheimer Abstimmung, mutmaßlich, um jedes klar zuordenbares Votum zu einzelnen Ratsmitgliedern zu vermeiden. Am Ende sprachen sich von 80 anwesenden Ratsmitgliedern 71 für die ins Auge gefasste nachträgliche Änderung des Mietvertrags aus, sieben stimmten dagegen, zwei enthielten sich. Die AfD selber zählt sechs Mandatsträger im Essener Stadtparlament.
Ihre E-Mail hatten die beiden Hoecker-Anwälte Christian Conrad und Michael Fengler an Oberbürgermeister Thomas Kufen gerichtet – und an ein Dutzend weitere Essener Empfänger, darunter auch das städtische Rechtsamt. Darin heißt es, der Ratsbeschluss für die angedrohte Kündigung, würde man ihn vollziehen, wäre „offensichtlich rechtswidrig“. Schon die Ausgangslage sei „fehlerhaft bzw. unvollständig“, der Beschluss wegen seiner Benachteiligung für nur eine Partei „verfassungswidrig“, die angepeilten Vertragsstrafen von bis zu 500.000 Euro schlicht „unverhältnismäßig“.
Im Ratssaal wurde die Tagesordnung abgearbeitet, beim OB die Vertragsänderung in die Wege geleitet
„Vor diesem Hintergrund“, so heißt es in dem Schreiben, „haben wir Sie aufzufordern, Ihr rechtswidriges Vorgehen unverzüglich zu stoppen, die Beschlussvorlage nicht einzubringen bzw. zurückziehen, jedenfalls aber nicht zur Abstimmung zu stellen oder, wenn ein entsprechender Beschluss gefasst werden sollte, diesen als rechtswidrig zu beanstanden“. Einen drohenden Wink mit dem Zaunpfahl gab es obendrauf: „Vorsorglich seien alle relevanten Beteiligten zudem auf die strafrechtliche Regelung der sog. ,Haushaltsuntreue‘ (...) hingewiesen.“ Die AfD behalte sich auch vor, die zuständige Kommunalaufsicht und die Messe unmittelbar zu kontaktieren.
Die örtliche Politik ließ sich von dem Schreiben erkennbar nicht beeindrucken. Und während im Ratssaal die Tagesordnung weiter abgearbeitet wurde, fanden sich in einem benachbarten Sitzungszimmer bereits die Teilnehmer der Gesellschafterversammlung ein, über die der Ratsbeschluss an die Messe Essen herangetragen werden muss. Der Beschluss dort fiel nach Information dieser Redaktion einstimmig aus. Zeitgleich war dem Vernehmen nach auch Messe-Chef Oliver P. Kuhrt zugegen, um die Ergänzung des Pachtvertrags für die Grugahalle um den Passus einer Selbstverpflichtung gegen jegliche NS-Parolen einzufordern.
Geht die Selbstverpflichtung nicht bis 4. Juni ein, löst dies die Kündigung der Halle aus
Geht diese Selbstverpflichtung nicht bis spätestens zum 4. Juni ein, löst dies automatisch eine Kündigung des Mietvertrags aus, ohne dass ein weiterer Ratsbeschluss notwendig wäre. Die AfD stünde dann am 29. und 30. Juni bei ihrem Bundesparteitag zwar mit 600 Delegierten zuzüglich Gästen, aber ohne Halle da. Schon deshalb gilt es als ausgemachte Sache, dass am Ende Gerichte über die nachträgliche Vertragskorrektur entscheiden.
Denkbar wäre, dass die AfD den Ratsbeschluss als solchen infrage stellt, dann wäre in erster Instanz wohl das Verwaltungsgericht in Gelsenkirchen zuständig. Geht sie gegen die eingeforderte Selbstverpflichtung und die damit einhergehende Kündigungs-Androhung vor, müsste sie das Landgericht anrufen. Oder im Zweifel: beide zugleich.
Im Stadtrat jedenfalls war die Debatte derweil eindeutig: Oberbürgermeister Thomas Kufen hatte vorab die zunehmende Radikalisierung der Partei beklagt, hatte nicht nur SS-Relativierungen und SA-Parolen als Belege dafür angeführt, sondern auch die Distanzierung anderer europäischer Rechtsparteien von der deutschen AfD. Indem sie die Chance bekomme, eine Selbstverpflichtung zu unterschreiben, liege es also „in der Hand der AfD, ob dieser Parteitag stattfindet oder nicht“, betonte Kufen: Am Ende sei Politik eben „auch eine Frage der Haltung. Und ich sage Ihnen: Nie wieder ist jetzt!“
Vertreter von CDU und Grünen, SPD, Linken und Essener Bürger Bündnis machten anschließend deutlich, dass sie den Vorwurf einer spürbaren, vor allem verbalen Radikalisierung der AfD teilen. Wie die Partei die Grenzen austeste, das sei „kein Zufall, keine Randerscheinung, keine Tat von Einzelnen“, sondern der gezielte und bewusste Versuch, die demokratische Mitte bloßzustellen, und den Rechtsstaat infrage zu stellen – so brachte es Dirk Kalweit für die CDU auf den Punkt.
Für die Grünen gilt es, „mit aller Macht“ einen juristischen Triumph der AfD zu verhindern
Für die SPD nahm Julia Klewin in Anspruch, man werfe Leute bei Entgleisungen eben notfalls aus der Partei, beziehe klar Stellung und suhle sich nicht in der Opferrolle. Kai Hemsteeeg vom EBB warf der AfD einen unverhohlenen Versuch vor, „den Rechtsstaat an seine Grenzen zu bringen“, und Heike Kretschmer von der Linkspartei mutmaßt, wie die Stadt Essen vorgehe, „das könnte zum Präzedenzfall für ganz Deutschland werden“.
Dass die Stadt Essen keine plumpe Kündigung des vor fast eineinhalb Jahren geschlossenen Mietvertrags in die Wege leitet, sondern zunächst die Chance einer strafbewehrten Selbstverpflichtung bietet – dieses Vorgehen erleichtert erkennbar die hiesigen Grünen. Für sie machte Fraktionschef Stephan Neumann im Rat deutlich, es gehe darum, „mit aller Macht“ zu verhindern, „dass der AfD auch nur die Möglichkeit geboten wird, mit einem gewonnenen Rechtsstreit zu triumphieren: Das wäre eine Steilvorlage zur Unzeit.“ Auch die jetzt gefundene Lösung räume nicht alle Bedenken seiner Partei aus, man vertraue aber auf die Rechtsauffassung der Stadt, die durch eine Expertise des Soziologen und Publizisten Andreas Kemper unterfüttert wird.
Essener AfD sorgt sich um Spitzel – und das menschliche Bedürfnis zehntausender Gegendemonstranten
Dessen Seriosität stellten Günter Weiß wie auch Andrea Poußet von der AfD in Frage: Kemper sei als Soziologe „im äußersten linken Spektrum“ verortet, die angedrohte Kündigung am Ende nur Ausdruck einer „Diffamierungskampagne“: „Wir lassen uns nicht den Mund verbieten“, und ohnehin: Wie wolle man Wortbeiträge eines Bundestreffens mit 600 Delegierten und zahlreichen Gästen in diesem Ausmaß kontrollieren? Zudem, so Weiß, komme bei der AfD noch ein anderer Aspekt ins Spiel: Womöglich würden „eingeschleuste Spitzel und verdeckte Ermittler absichtlich oder im Auftrag strafbare Äußerungen von sich geben, um der Partei zu schaden“.
Weiß‘ Sorge gilt nicht nur dem AfD-Treffen, sondern auch möglichen Schäden im Stadtbild durch die Gegendemonstrationen – „mal ganz zu schweigen davon, wie das Toilettenbedürfnis von mehreren zehntausend Menschen bedient werden kann“.