Essen-Rüttenscheid. Für Co-Abhängige gibt es eine Anlaufstelle in Essen-Rüttenscheid. Betroffene lernen dort: „Schmerz und Wut sind erlaubt.“

Gertrud Meyer muss sich kümmern. Das war ihr schon im Kindesalter klar. Nicht nur um sich selbst, sondern um die ganze Familie. Zwanghafte Verhaltensmuster schaute sich die 65-Jährige, die eigentlich anders heißt, ihren Namen aber nicht in der Zeitung lesen möchte, von ihrer Mutter ab. Was folgte, waren viele Jahre wie im Korsett und ungesunde Beziehungen. Unterstützung erfährt sie heute in einer CoDA-Gruppe (Co-Dependents Anonymous, auf Deutsch: Anonyme Co-Abhängige) in Rüttenscheid.

CoDA ist eine Gemeinschaft von Frauen und Männern, deren gemeinsames Problem die Unfähigkeit ist, gesunde Beziehungen einzugehen und aufrechtzuerhalten. Co-Abhängigkeit ist eine Beziehungsstörung. Betroffene machen sich in der Regel in ungesunder Weise von anderen Menschen abhängig. Sie neigen dazu, andere Menschen wie Partner, Eltern, Kinder, Verwandte und Freunde als einzige Quelle ihrer Identität, ihres Wertes und ihres Wohlbefindens zu benutzen.

CoDA-Gruppe trifft sich im Rüttenscheider Bürgerzentrum Villa Rü – Treffen sind anonym

Die Essener Selbsthilfegruppe trifft sich jede Woche freitags von 18 bis 19.30 Uhr in Raum 303 des Bürgerzentrums Villa Rü (Girardetstraße 21). In den CoDA-Meetings üben sich Teilnehmerinnen und Teilnehmer darin, sich selbst warzunehmen, wertzuschätzen und zu lieben – unabhängig davon, wie andere sie gerade sehen oder auf sie reagieren. Wie bei den Anonymen Alkoholikern soll die Anonymität auch bei CoDA Vertrauen und Gleichheit schaffen und den Einzelnen vor unerwünschter Öffentlichkeit schützen.

Die Mitglieder der Selbsthilfegruppe CoDA treffen sich immer freitags im Rüttenscheider Bürgerzentrum Villa Rü.
Die Mitglieder der Selbsthilfegruppe CoDA treffen sich immer freitags im Rüttenscheider Bürgerzentrum Villa Rü. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

„Viele Betroffene kommen aus Familien mit Suchtkrankheit“, weiß Gruppenmitglied Emilia Wagner (42), die ebenfalls anders heißt, aber anonym bleiben möchte. Der Klassiker: Ein Elternteil ist Alkoholiker und alle in der Familie kreisen um ihn. Die Rollen werden vertauscht, Kinder müssen sich schon früh um die Eltern kümmern, entwickeln ein Kontrollbedürfnis ihnen gegenüber. Wenn die Kinder selbst erwachsen seien, könnten sie dann schwer das „Helfersyndrom“ ablegen, so Wagner. Anderen sprächen sie häufig die Fähigkeit ab, für sich selbst sorgen zu können.

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Co-Abhängigkeit: Oft tauschen Kinder und Eltern die Rollen

Wenn man als Kind erfahren habe, dass ein Elternteil nur herumsitze und vor sich hin starre, während sich der Abwasch türme und die Wohnung immer dreckiger werde, dann glaube man irgendwann nicht mehr, dass andere sich um sich selbst kümmern können. „Es muss aber nicht zwingend sein, dass das Kind die ganze Zeit kocht und putzt“, ergänzt Wagner. Der Rollentausch könne auch bedeuten, dass sich Eltern emotional an die Kinder „anlehnen“ und ihre Sorgen bei ihnen abladen.

„Grenzen sind ein großes Thema“, erklärt Wagner weiter. Wenn Kinder dauerhaft über ihre Grenzen gingen, um ihre Eltern aufzufangen, dann falle es ihnen auch später im Leben schwer, Grenzen zu setzen und die Grenzen anderer zu akzeptieren. So gehe es auch ihr persönlich: „Ich bin in einer dysfunktionalen Familie aufgewachsen und habe viel Entgrenzung erlebt.“ Lange habe sie Schwierigkeiten dabei gehabt zu realisieren, was sie selbst fühle. Denn sie habe ja immer die Gefühle von anderen „übernommen“, habe sich angepasst. „Das führt auch dazu, dass man die eigenen Gefühle bagatellisiert“, so die Essenerin. „Ich bin nicht wichtig“, denke man dann.

Wurzel der Co-Abhängigkeit: Als Kind schon die „kleine Mutti“

Gertrud Meyer erzählt: „Meine Eltern haben nach dem Krieg geheiratet und drei Kinder bekommen. Sie vertraten das gängige Rollenmodell. Ich sollte ein Hauswirtschaftsjahr machen, meine Brüder nicht.“ Zu Hause sei sie zur „kleinen Mutti“ geworden, die sich um alles kümmerte. Einkauf, Haushaltsführung. „Meine Eltern haben sich bedürftig gezeigt.“ Zusätzlich habe sie Missbrauch durch den Vater erlebt. „Dieses Familiensystem hat Spuren hinterlassen“, sagt die 65-Jährige. So starke, dass sie vor vielen Jahren nach einem Zusammenbruch in einer psychosomatischen Klinik gelandet sei.

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Heute fühle sie sich schnell bevormundet, gegängelt und eingeschränkt, möge es zum Beispiel nicht, sich terminlich verpflichten zu müssen. In ihrer Ehe habe sie unter der zu starken Nähe gelitten und sei gleichzeitig in alte Muster zurückgefallen, habe zwanghaftes Verhalten entwickelt. „Die Frau muss die Hausfrauenrolle einnehmen“, habe sie gedacht. Ihr jetziger Partner und sie haben getrennte Wohnungen. Inzwischen könne sie auch darüber hinwegsehen, wenn sein Küchenboden nicht gereinigt sei. „Früher war für mich klar: Die Frau putzt.“ Jetzt kümmere sich jeder um sich.

Selbsthilfegruppe in Essen-Rüttenscheid ist für Betroffene „wie Duschen“

Eine große Last sei ihr nach ihrer Frühverrentung von den Schultern gefallen, so die gelernte Industriekauffrau. „Jetzt habe ich nicht mehr das Gefühl, dass ich im Job auch alles schaffen muss“, betont sie. Emilia Wagner berichtet ebenfalls, dass sich die Co-Abhängigkeit im Berufsleben stark bemerkbar mache: „Ich will immer alles im Griff haben und am liebsten alle retten. Es ist für mich schwierig abzuschalten.“

Einmal die Woche die Selbsthilfegruppe zu besuchen, sei für sie „wie Duschen“, eine „emotionale Erfrischung“. Man lerne dort unter anderem eine neue Art zu kommunizieren, so Wagner. Eine gewaltfreie Art, die eigenen Gefühle zu äußern, in dem Vertrauen, dass man wohlwollend behandelt werde. „Schmerz und Wut sind erlaubt, ohne dass man aggressiv wird“, ergänzt Gertrud Meyer. Wagner nennt ein einfaches Beispiel: „‘Ich bin wütend‘ statt ‚Du bist blöd‘.“

Essener Gruppe ist offen für neue Mitglieder

Fünf bis sechs Kernmitglieder hat die Gruppe aktuell. Etwa die Hälfte sind Frauen, die Hälfte Männer. Manche von ihnen sind sehr jung, andere Ende 60. Alle sind willkommen, nur für Kinder ist die Gruppe nicht geeignet. Emilia Wagner und Gertrud Meyer würden sich freuen, wenn sich weitere Teilnehmerinnen und Teilnehmer anschließen. „Die Hemmschwelle ist oft groß“, weiß Wagner. Sie will Interessierte ermutigen: „Das sind keine ‚Jammermeetings‘.“ Wer möchte, könne auch einfach erst einmal dabei sein und zuhören.

Weitere Informationen gibt es telefonisch unter 0179 1229016. Die Teilnahme an der Gruppe ist kostenfrei.

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