Essen. In Essen sank die Zahl der Tagesmütter und -väter im vergangenen Jahr zum ersten Mal. Liegt es an den Arbeitsbedingungen?

In Essen ging die Zahl der Tagesmütter und -väter im Jahr 2023 erstmals zurück. Dabei sind sie für die Betreuung von Kleinkindern unverzichtbar. Die Arbeitsbedingungen müssten sich verbessern, sagt die Vorsitzende der Interessengemeinschaft (IG) Kindertagespflege, Claudia Gößling. Beispiel Urlaub: „Wir haben in Essen 30 Schließungstage im Jahr – das ist eine Vollkatastrophe.“

Wir haben in Essen 30 Schließungstage im Jahr – das ist eine Vollkatastrophe.“
Claudia Gößling, Vorsitzende der Interessengemeinschaft Kindertagespflege

Auf den ersten Blick klinge die Zahl gar nicht schlecht, doch Schließungstage könne man nicht mit bezahltem Urlaub gleichsetzen. Tatsächlich seien nur 7,5 der Schließungstage bezahlter Urlaub, rechnet Gößling vor: Die Stadt behalte Monat für Monat vorsorglich ein Zwölftel des Entgeltes ein, so dass die Tagesmütter 22,5 der 30 Schließungstage de facto selbst bezahlen.

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Angesichts der knappen Bemessung des bezahlten Urlaubes sei es umso ärgerlicher, dass die Stadt den rund 800 Tagespflegepersonen seit 2022 auch für Heiligabend und Silvester jeweils als einen vollen Schließungstag abziehe. Für Beschäftigte der Stadt sind dagegen beide Tage grundsätzlich dienstfrei. „Wir wollen erreichen, dass wir zumindest nur einen halben Tag für Heiligabend und Silvester nehmen müssen“, sagt Claudia Gößling.

In Essen haben Tageseltern besonders wenige Urlaubstage

Außerdem fordert die IG Kindertagesplege, dass die Schließungstage von 30 auf 35 hochgesetzt wird. „Dann hätten wir immerhin 12,5 Tage bezahlten Urlaub; langfristig sollen es 30 sein.“ So hielten es schon die meisten anderen Städte im Land. „Wir sind in NRW auf dem drittletzten Platz.“

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Auf den Tageseltern, die selbstständig sind, laste wegen der aktuellen Regelung ein hoher Druck: „Wir können uns faktisch nicht leisten, krank zu werden.“ Man kämpfe hier schon lange für eine Verbesserung und werde mit dem Thema verstärkt an die Öffentlichkeit gehen, kündigt die IG-Vorsitzende an.

Das Jugendamt sagt, dass man dazu schon mit der IG und den vier Fachverbänden, die Tagesmütter ausbilden, im Gespräch sei. „Der Prozess befindet sich derzeit in der Klärung“, erklärt Jugendamtssprecherin Stefanie Kutschker. Sie verweist auch darauf, dass die Stadt in einer anderen Frage schon auf die Tageseltern zugegangen sei. So hatten diese wiederholt beklagt, dass sie nur maximal 50 Euro Essensgeld von den Eltern erheben dürften. Damit lasse sich in Zeiten „explordierender Lebensmittelpreise“ nicht mehr auskömmlich arbeiten, kritisierte die IG Kindertagespflege im Frühjahr 2023.

Verein fordert höhere Obergrenze beim Essensgeld für Tagesmütter in Essen

Kämpft für die Interessen der Tagesmütter und -väter: Claudia Gößling, Vorsitzende der Interessensgemeinschaft (IG) Kindertagespflege Essen.
Kämpft für die Interessen der Tagesmütter und -väter: Claudia Gößling, Vorsitzende der Interessensgemeinschaft (IG) Kindertagespflege Essen.

Mit der jüngsten Satzungsänderung vom August 2023 dürften nur maximal 65 Euro erhoben werden, sagt Stefanie Kutschker. Man habe die Tageseltern dazu im Vorfeld befragt und die Ausgaben für Mahlzeiten berechnet. Im Übrigen wolle der Gesetzgeber sicherstellen, dass alle Eltern unabhängig vom Einkommen die öffentlich geförderte Kinderbetreuung nutzen können: „Durch zu hohe Beiträge für Mahlzeiten wäre das beeinträchtigt“, betont Stefanie Kutschker. Sie stellt klar: „Eine erneute Erhöhung ist nicht vorgesehen.“

Für Claudia Gößling bleibt das ein Ärgernis: Das Essensgeld müsse voll versteuert werden, so blieben von den monatlich 65 Euro nur 40 Euro übrig, mit denen man täglich drei Mahlzeiten bestreiten müsse. Die IG argumentiert schon lange, dass es Eltern gebe, die etwa für Bio-Kost bereit wären, mehr zu zahlen. In manchen Städten könnten Tageseltern über 100 Euro im Monat verlangen. Umgekehrt gebe es in Essen Stadtteile, „in denen die Tagesmütter weniger Essensgeld nehmen“. Der Zugang aller Familien zur Kinderbetreuung sei also gegeben. „Wir bleiben da dran.“

Kinderbetreuung im Vergleich

Das Essener Jugendamt nimmt regelmäßig an der bundesweiten Erik-Studie (Entwicklung von Rahmenbedingungen in der Kindertagesbetreuung) teil. Zudem tausche man sich mit anderen Städten über die Tagespflege aus, sagt Jugendamtssprecherin Stefanie Kutschker. Es sei aber „wenig aussagekräftig“, wenn man Aspekte wie Essensgeld, Entgelte oder Urlaubstage isoliert mit den Regelungen anderer Städte vergleiche. Vielmehr müsse man die Rahmenbedingungen insgesamt in den Blick nehmen, also das Gesamtpaket anschauen – und da rangiere Essen bei der Kindertagespflege „im guten Mittelfeld“.

Die Eltern hätten oft sehr individuelle Betreuungswünsche, sagt die Vorsitzende der IG Kindertagespflege, Claudia Gößling. Wenn sie aber zwei Kinder von 7.30 bis 15 Uhr annähme und eins von 8.30 bis 16 Uhr, verlängere sich ihr Arbeitstag entsprechend. Und wenn Eltern abweichend von der vertraglich vereinbarten Betreuungszeit ihr Kind morgens immer eine Stunde später bringen, darf diese Stunde nicht abgerechnet werden. Infos: www.ig-kindertagespflege.de/

Schließlich, so die Tagespflege-Lobbyistin, seien ihre Kolleginnen auch von steigenden Energie- und Mietkosten betroffen. Denn längst betreuen viele Tageseltern die Kinder nicht mehr im eigenen Zuhause, sondern in angemieteten Räumlichkeiten. Das verursache hohe Kosten.

Tageseltern in Essen: Verdienst gilt als auskömmlich, aber Rücklagen könne man nicht bilden

„Es ist das erste Mal, dass es einen Rückgang der Anzahl der Kindertagespflegepersonen gab“, sagt die Sprecherin des Essener Jugendamtes, Stefanie Kutscher über die Entwicklung im Jahr 2023.
„Es ist das erste Mal, dass es einen Rückgang der Anzahl der Kindertagespflegepersonen gab“, sagt die Sprecherin des Essener Jugendamtes, Stefanie Kutscher über die Entwicklung im Jahr 2023. © FUNKE Foto Services | Lars Fröhlich

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Grundsätzlich liege Essen bei der Bezahlung der Tagesmütter und -väter aber im Mittelfeld, räumt Claudia Gößling ein. Zwar könne man kaum Rücklagen für Zeiten geringerer Auslastung bilden, aber: „Das ist auskömmlich.“ So sieht es auch Jugendamtssprecherin Kutschker. Im vergangenen Jahr hätten 62 Kindertagespflegepersonen in Essen ihre Tätigkeit beendet: „Der Verdienst wurde in keinem einzigen Fall als Grund angegeben, was aus Sicht der Verwaltung eine Bestätigung der finanziellen Rahmenbedingungen für die Tätigkeit ist.“

Mehr scheidende als neu startende Tagesmütter in Essen

Der Tageseltern-Nachwuchs zögert offenbar trotzdem, sich auf den Job einzulassen: So standen den 62 scheidenden nur 52 Tagesmütter und -väter gegenüber, die die Tätigkeit neu aufnahmen. Um fehlende Betreuungsplätze für die Kinder unter drei Jahren (U3) müsse man sich dennoch nicht sorgen, sagt Kutschker. In Essen würden 4151 U3-Kinder in Kitas betreut und weitere 2648 bei Tageseltern. Die Versorgunsquote von 40 Prozent für diese Altersgruppe werde „bereits mehr als erfüllt“.

Claudia Gößling geht allerdings davon aus, dass bei den Zwei- bis Dreijährigen mehr als 40 Prozent der Familien einen Betreuungsplatz wünschen. Anders gesagt: Auf Dauer sollte die Zahl der Tageseltern nicht weiter sinken.

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