Essen-Altenessen. Mohammed Guliyev liebt das Lesen. Obwohl er mit unbekannten Texten kein Problem hat, macht ihn die nächste Wettkampfrunde nervös.

Mohammed Guliyev vom Leibniz-Gymnasium hat beim Essener Kreisentscheid des bundesweiten Vorlesewettbewerbes gewonnen. Als in der Zentralbibliothek die Sieger bekannt gegeben wurden, blickte der Elfjährige nur versonnen in der Gegend umher: „Erst habe ich das gar nicht realisiert. Ich konnte nicht gemeint sein.“ Doch dann wurde ihm klar, dass er es geschafft hatte, die vierköpfige Jury zu überzeugen.

Der Sechstklässler gibt offen zu: „Als ich auf die Bühne gerufen wurde, habe ich so sehr gezittert wie noch nie in meinem Leben. Ich hatte noch nie in ein Mikrophon gesprochen.“ Schon am Vorabend sei er dermaßen aufgeregt gewesen, dass an Schlaf kaum zu denken war. Die große Schwester Aydan (21) lächelt: „Auf dem Weg zum Wettbewerb musste ich ihn erst einmal beruhigen.“

Essenerin brachte ihren Kindern schon früh Lesen und Rechnen bei

Aydan studiert in Münster Pharmazie, ihre Schwestern Laman (22) Physik in Bonn, und Gülben (19) Soziale Arbeit in Düsseldorf. Alle drei sind Leseratten, alle drei gingen aufs Leibniz-Gymnasium, Laman und Aydan legten Einser-Abiture hin. Vater Vahid strahlt: „Eltern sind doch stolz, wenn ihre Kinder so schlau sind.“ Er und seine Familie flohen 2003 aus der seit Jahrzehnten von bewaffneten Konflikten erschütterten aserbaidschanischen Region Qarabağ. Bei der Flucht waren Laman und Aydan noch sehr klein und Gülben noch nicht geboren. Die Guliyevs schlugen in Altenessen Wurzeln.

Vahid Guliyev war Feuerwehrmann und arbeitet nun bei einem Security-Unternehmen. Ehefrau Sabina war Mathelehrerin und ist nun Integrationshelferin in der Kita „Unsere kleine Farm“ im Ostviertel: „Ich arbeite gerne mit Kindern.“ Ihren Kindern war sie Mutter und Lehrerin zugleich, brachte ihnen schon im Vorschulalter Lesen und Rechnen bei.

Auch Nesthäkchen Mohammed liegt das Lesen. Das Klischee „unsportlicher Bücherwurm“ trifft auf Mohammed nicht zu, er ist auch im Schwimmverein TuS Altenessen aktiv. Dort konnte er schon die Klubmeisterschaft gewinnen.

Gern gelesen in Essen

Sein Zimmer ist vollgestopft mit Büchern: „Ich liebe Fantasy-Geschichten.“ Angefangen habe er mit „Das magische Baumhaus“ von Mary Pope Osborne und im vierten Schuljahr zu Joanne K. Rowlings „Harry Potter“ gegriffen. Er liebt die „Tintenherz“-Welt von Cornelia Funke und ist fasziniert von „White Fox“ des chinesischen Autors Chen Jiatong. Die Reihe handelt vom kleinen Polarfuchs Dilah, der sich nach dem Tod der Eltern in einer harten und grausamen Welt behaupten muss.

Schwestern haben mit dem kleinen Bruder für den Vorlesewettbewerb geübt

Als seine Deutschlehrerin mit dem Projekt „Vorlesewettbewerb“ in die Klasse 6c kam, war Mohammed Feuer und Flamme, wurde Klassensieger und nahm am Schulfinale teil. Dort las er aus „Harry Potter und die Heiligtümer des Todes“ und war auch in der zweiten Runde mit einem Fremdtext nicht zu stoppen. Bis dahin war alles gut, aber vorm großen Finale hatte er doch gehörigen Respekt. Schwester Gülben: „Wir haben mit ihm geübt und auch Feedback gegeben. Er sollte vor allem lauter sprechen.“

Beim Vorlesewettbewerb geht es darum, Sprach- und Textverständnis zu beweisen und den Vortrag lebendig zu gestalten, ohne jedoch ins Theatralische abzugleiten. Mohammed las sicher und flüssig aus „White Fox“ und hatte auch mit dem Fremdtext „Wolf“ von Saša Stanišić keine Probleme. Als Jury lauschten Heike Staudinger (Stadtbibliothek) und Buchhändlerin Mareike Niehaus (Schmitzjunior), Reiner Düchting (ehemaliger Leiter der Hauptschule Stoppenberg) sowie Journalist Daniel Henschke – der Autor dieses Textes.

Essener Buchhändler lobt das Niveau und die Vielfalt der Geschichten

Dennis Hasemann von der Werdener Buchhandlung Schmitz organisiert den Essener Vorlesewettbewerb. Hasemann möchte die Leseförderung in ganz Essen aktivieren und somit auch erreichen, dass „soziale Mauern“ zwischen Süden und Norden der Stadt durchlässiger werden. Der Buchhändler lobt: „Das Niveau war wirklich hoch und die Vielfalt der Geschichten erfreulich. Wir müssen da am Ball bleiben und die Begeisterung fürs Lesen weiter anstacheln. Das geht aber nur gemeinsam mit Eltern, Schulen und Kindern.“

Finale im Juni in Berlin

An dem von Erich Kästner mitgegründeten und von Börsenverein des Deutschen Buchhandels und Stiftung Buchkultur ausgelobten Vorlesewettbewerb nehmen bundesweit über 500000 Schüler und Schülerinnen teil. Mohammed Guliyev und der andere Sieger Justus Ritter (Grashof-Gymnasium) werden am 14. April beim Bezirksentscheid in Düsseldorf antreten. Im Erfolgsfall geht es auf Landesebene weiter, das Bundesfinale findet im Juni in Berlin statt. Dort treten die 16 Landessieger gegeneinander an – zu sehen sein wird das in der ARD-Mediathek und auf KiKa.de.

Aktuell liest Mohammed „Das Geheimnis von Darkmoor Hall“ von Nina Schweling, welches alle Teilnehmer erhielten. Dann wird „Pepe und der Oktopus auf der Flucht vor der Müllmafia“ von Stepha Quitterer an der Reihe sein, das er als Siegerpreis erhielt.

Seine Deutschlehrerin deutete schon an, dass in der Schule womöglich „Wolf“ gelesen werde. Dieser Kinderroman spielt in einem Ferienlager und macht Mut zum Anderssein. Und dann wäre da noch der Bezirksentscheid. Bloß nicht daran erinnern. Mohammed verdreht die Augen: „Ich bin jetzt schon nervös…“

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