Essen-Holsterhausen. Beim Offenen Vorlesen in Essen-Holsterhausen kann jeder Stellen aus seinem Lieblingsbuch oder aus eigenen Texten vortragen. Ein Besuch.

Der Zuhörer hängt dem Vorleser an den Lippen. Lauscht seinen Geschichten und lässt sich in andere Welten entführen. Das beflügelt die Fantasie. Gemeinschaftliches Erspüren von Literatur schafft Nähe. So auch in der „Insel der Bücher“ an der Gemarkenstraße. Der Holsterhauser Buchhändler Sebastian Schmitz hat das Format „Offenes Vorlesen“ nach Essen geholt und ist auch beim fünften Mal begeistert: „Das war eine richtig schöne intime Atmosphäre heute, obwohl oder gerade weil wir viel Tiefgang hatten, mit schweren Themen. Ich freue mich, dass wir die Kraft, die Vorlesen hat, etwas aufleben lassen.“

Das Format habe er allerdings „geklaut“, gibt der 45-Jährige unumwunden zu: „Ich habe in Siegburg gelebt, bis ich vor drei Jahren zurück nach Essen gezogen bin. Die Brüder Remmel hatten dort eine Buchhandlung und einen kleinen Verlag. Sie haben das Offene Vorlesen etabliert. Das war immer total schön. Das wollte ich in meinen Stadtteil bringen, und es ist gelungen. Diese Veranstaltungsreihe stieß von Anfang an auf Zuspruch. Meine 25 Sitzplätze waren stets ausgebucht.“

Offenes Vorlesen in Essen-Holsterhausen: Jeder darf 15 Minuten lesen

Jeder, der möchte, kann vorlesen. Eigene Texte, aus dem Lieblingsbuch oder was auch immer. Aber nicht über 15 Minuten. Schmitz droht gar mit der Sanduhr, grinst dabei aber. Zwischendurch gibt es auch Pausen, damit Zeit für Gespräche bleibt. Man kann besprechen, was da vorgetragen wird. Nicht zu schnell, nicht zu leise, immer eindringlich. Hier lesen Menschen das vor, was ihnen am Herzen liegt.

Das Offene Vorlesen findet regelmäßig in der Buchhandlung „Insel der Bücher“ statt. Lustige Texte sind dabei genauso willkommen wie schwere Themen.
Das Offene Vorlesen findet regelmäßig in der Buchhandlung „Insel der Bücher“ statt. Lustige Texte sind dabei genauso willkommen wie schwere Themen. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Sabine Steinhoff hat das Buch „Säwentitu“ mitgebracht. Zu Weihnachten geschenkt bekommen und direkt „verschlungen“. Bea von Malchus erinnert sich an ihre Jugend in Dortmund. Urkomisch, wie sie immer wieder Schiffbruch erlebte mit euphorischen Backversuchen: „Lautes Singen macht Hefeteig wütend.“ Und wer erinnert sich nicht an die zu engen Jeans, die mit der Zange angezogen werden mussten? Wissendes Gelächter.

Hans-Joachim Meyer-Pohrt wohnt nicht weit entfernt und liest eigene Gedichte vor. Er war Kirchenmusiker, Logopäde, leitete den Bachchor, malt nun abstrakte Bilder und dichtet Nachdenkliches, das aber auch Mutmachendes in sich trägt. So heißt sein Gedichtband „Zarte Gefühle brauchen das Grün der Hoffnung“.

Essenerin erzählt von Erlebnissen im Hospiz

Bekannt ist sie als die „Miederkönigin“ mit ihrem Geschäft für große Größen im Gemarhaus. Anne Penteker liest nun vor, was eine Freundin aufgeschrieben hat. Eine Geschichte, die Anna Penteker erlebte als ehrenamtliche Begleitung eines Sterbenden im Steeler Hospiz. Da war dieser todkranke grantige Einzelgänger, der sich auch im Hospiz nicht von seinem Hund trennen wollte. Der nörgelte und dem Pflegepersonal das Arbeiten schwer machte, bei ihr aber friedlich war wie ein Lamm.

Sie hielt es aus, als er Blut hustete, sie half den abgemagerten Körper zu betten, und sie lernte, mit dem Sauerstoffgerät umzugehen. Sie brachten sich gegenseitig zum Lachen. Er starb, wie er gelebt hatte. Allein. Am äußersten Ende des Friedhofs, ganz nahe am Zaun, hat er seine Ruhestätte gefunden. Das Publikum schweigt und ist beglückt, dass es diesen Moment teilen durfte.

15 Minuten lang darf jeder Interessierte in Essen-Holsterhausen vorlesen, was er mag. Zwischendurch bleibt auch Zeit für Gespräche.
15 Minuten lang darf jeder Interessierte in Essen-Holsterhausen vorlesen, was er mag. Zwischendurch bleibt auch Zeit für Gespräche. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Sie ist eigentlich Tänzerin und Choreographin. Doch heute ist Jelena Ivanovič Vorleserin. Und zwar aus „Marianengraben“, dem Debütroman von Jasmin Schreiber: Paula hat ihren kleinen Bruder Tim durch einen schrecklichen Unfall verloren und steigt nachts mit einer Leiter über die Friedhofsmauer. Helmut wiederum ist ein schrulliger alter Mann, der seiner Freundin Helga etwas versprochen hatte und es nun einlösen muss, koste was es wolle, auch wenn er dafür ihre Urne stehlen muss. Das ist irre komisch, obwohl oder gerade weil es hier um Tod, Trauer, Schuldgefühle und Depressionen geht.

Gern gelesen in Essen

Essener Buchhändler stellt Werk eines US-Autoren vor

Lina Gerards traut sich spontan und liest aus „101 Essays, die dein Leben verändern werden“ von Brianna Wiest. Ein Gedankenexperiment: „Was wäre, wenn wir die Seelen sehen könnten statt der Körper? Würden wir unsere Zeit in Fitnessstudios verbringen und in Modeläden? Oder doch in Bibliotheken und Tempeln?“

Sebastian Schmitz selbst stellt den postum veröffentlichen Roman „Unsere Seelen bei Nacht“ des US-Autoren Kent Haruf vor. Sie sind alt geworden, beide verwitwet und beide schrecklich allein. Dann macht sie ihm einen überraschenden Vorschlag: „Ich glaube, dass ich wieder schlafen könnte, wenn jemand neben mir liegt.“ Nein, um Sex geht’s nicht: „Ich spreche davon, die Nacht zu überstehen.“ Und so schleicht sich Louis abends herüber zu seiner Nachbarin Addie, Pyjama und Zahnbürste im Gepäck…

Buchhändler Sebastian Schmitz hat das Offene Vorlesen in Essen-Holsterhausen etabliert – auch wenn er unumwunden zugibt, dass er das Format „geklaut“ habe.
Buchhändler Sebastian Schmitz hat das Offene Vorlesen in Essen-Holsterhausen etabliert – auch wenn er unumwunden zugibt, dass er das Format „geklaut“ habe. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Nächste Veranstaltung in Essen-Holsterhausen findet am 3. März statt

Zum Abschluss hat Brigitte König etwas aus dem reichen Schatz der keltischen Märchen mitgebracht. Einer der irischen Könige von Munster ward von einem „gesetzlosen Tier“ befallen, das ihn zwang, unablässig zu essen. Der fresssüchtige König brachte seine Untertanen an den Rand des Ruins. Erst ein Student konnte das „Tier“ mit einer merkwürdigen Zeremonie aus dem Körper herauslocken und vertreiben. Das ist höchst fantasievoll und geradezu opulent erzählt. Allgemeines zustimmendes Gemurmel.

Am Sonntag, 3. März, findet an der Gemarkenstraße 65 um 18 Uhr das nächste Offene Vorlesen statt und Buchhändler Schmitz lädt ein: „Bringen Sie Ihr Lieblingsbuch mit, lesen Sie uns Ihre eigenen Texte vor, Lyrik, Belletristik, Sachbuch, alles ist willkommen. Trauen Sie sich!“ Anmeldungen für Vorleser und Zuhörer sind per E-Mail an hallo@inselderbuecher.de möglich. Weitere Informationen auf www.inselderbuecher.de und auf den sozialen Kanälen der Buchhandlung.

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