Essen. Zur Kinderschutzambulanz im Elisabeth-Krankenhaus Essen kommen Kinder, schwer verletzt an Körper und Seele. Oft sind ihre Eltern unter Verdacht.

Die Patienten sind jung – Babys, Klein- und Schulkinder – und sie werden begleitet von einem Verdacht: Dass ihre Wunden an Körper und Seele ihnen von den Menschen zugefügt werden, denen sie anvertraut sind. In der Kinderschutzambulanz des Elisabeth-Krankenhauses bestätigen sich die meisten der Verdachtsfälle. „Es kommt selten ein Kind hier durch die Tür, bei dem kein Handlungsbedarf besteht“, sagt Dr. Kristina Gärtner.

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Die Oberärztin leitet die Kinderschutzambulanz, die vor zwei Jahren eingerichtet wurde, gemeinsam mit ihrem Kollegen Christopher Lindow. Zum Team gehören Kinderchirurgen sowie Kinderärztinnen, Psychologinnen und Pflegekräfte. Sie nehmen sich die Zeit, die es im Alltag einer Kinderarztpraxis meist nicht gibt. Längst nutzen auch Nachbarstädte wie Hattingen und Velbert das Angebot.

Rund 300 Fälle im Jahr behandelt die Essener Kinderschutzambulanz

Rund 300 Fälle haben sie im Jahr, Tendenz steigend: vom verwahrlosten, entwicklungsverzögerten Kleinkind über den schwerst misshandelten Teenie oder den selbstverletzenden Systemsprenger bis zur drogenabhängigen, 14-jährigen Mutter. „Da haben wir dann gleich zwei Fälle: das junge Mädchen und das Baby“, sagt Kristina Gärtner.

Die allermeisten Patienten und Patientinnen kommen nicht über die Notaufnahme, sondern mit Termin: „Der klassische Weg ist, dass wir vom Jugendamt gebeten werden, ein Kind zu untersuchen und mögliche Verdachtsmomente zu dokumentieren oder zu untermauern.“ Die Mitarbeiter des Amtes betreuen das Kind oft schon länger, wollen den Gesprächsfaden zu den Eltern nicht kappen, machen sich aber Sorgen.

Es kommt selten ein Kind hier durch die Tür, bei dem kein Handlungsbedarf besteht.“
Dr. Kristina Gärtner, Leiterin der Kinderschutzambulanz im Essener Elisabeth-Krankenhaus

So gehe es auch oft den Kinderärzten der Familien, die eine zu konfrontative Ansage bisweilen scheuten, weil die Eltern dann erst gar nicht wiederkämen – und das Kind jeder ärztlicher Sorge entzogen wäre. Solche Rücksichten brauchen Gärtner und ihr Team nicht zu nehmen: Sie betreuen die Kinder nicht dauerhaft. „Wir sind die Ärzte, die das Kind zum ersten Mal, also mit neutralem Blick sehen.“

Sie machen das so gründlich, wie interdisziplinär. „Viel holt die Psychologin raus“, betont Gärtner. Die Mediziner halten Verletzungen, Wunden und andere Auffälligkeiten mit der Kamera fest. Beweissicherung am Kind. Das Team arbeitet mit zwei rechtsmedizinischen Instituten zusammen.

Erklärungen der Eltern passen oft nicht zum Verletzungsmuster

Mit dem Teddy zeigt Dr. Kristina Gärtner den kleinen Patienten in der Kinderschutzambulanz, welche Position sie für bestimmte Untersuchungen einnehmen sollen.
Mit dem Teddy zeigt Dr. Kristina Gärtner den kleinen Patienten in der Kinderschutzambulanz, welche Position sie für bestimmte Untersuchungen einnehmen sollen. © FUNKE Foto Services | Uwe Ernst

Nicht jede Misshandlung lasse sich zweifelsfrei beweisen, sagt Kristina Gärtner, aber: „Es gibt Verletzungsmuster, die mit der Aussage der Eltern nicht vereinbar sind.“ Hinweise auf Stockhiebe, Narben von Verbrennungen etwa. Auch heiße es etwas, wenn ein Kind dezidiert und wiederholt schildere, was ihm passiert ist.

Schwierig sei die Beweisführung häufig bei sexuellem Missbrauch. „Da muss ich das Kind schon sehr zeitnah sehen.“ Auch hänge es davon ab, wie gut der Täter verstehe, seine Taten zu verschleiern. Das gelinge leider regelmäßig, wenn der Missbrauch über lange Zeit und im engen Umfeld des Kindes stattfinde. Den Kindern würden dann Erklärungen für die ihnen angetane Gewalt genannt, die sie übernähmen: „Das wird ihnen anerzogen.“

Der klassische Weg ist, dass wir vom Jugendamt gebeten werden, ein Kind zu untersuchen und mögliche Verdachtsmomente zu dokumentieren oder zu untermauern.“
Dr. Kristina Gärtner, Leiterin der Kinderschutzambulanz im Essener Elisabeth-Krankenhaus

Andere Kinder hätten in der Familie schon erleben müssen, dass ihre Aussagen auf Unglauben oder entsetzte Reaktionen gestoßen seien. „Wir ermutigen sie, uns auch vermeintlich schockierende Dinge zu erzählen, sagen ihnen, dass wir das aushalten können.“ Und ja, es gebe auch drastische Sachbeweise: Kinder mit Sexualkrankheiten oder die Zwölfjährige, die schwanger ist.

Bei Kindesmissbrauch wird sofort Anzeige erstattet

Bei Kindesmissbrauch erstatten die Mediziner rasch Strafanzeige: Man sehe die Ermittler als enge Partner, außerdem habe die Polizei andere Rechte, könne Hausdurchsuchungen machen, digitale Medien beschlagnahmen. Auch bei schwerer Misshandlung schalte man die Polizei regelhaft ein.

Bei Sexualstraftaten gehe es auch darum, andere Kinder zu schützen: Das gelte nicht nur bei Verdachtsfällen aus Kita oder Sportverein. Oft genug handele es sich bei den Tätern um den neuen Partner der Mutter. Werde der nicht gestoppt, suche er sich häufig gezielt die nächste Frau mit Kind, das nächste Opfer.

Nur die wenigsten Mütter und Väter zeigen Einsicht

Das Team der Kinderschutzambulanz im Elisabeth-Krankenhaus Essen (v.l.): Dr. Melanie Anheyer, Yvonne Catalano-Deppe, Dr. Kristina Gärtner, Anna Weber, Christopher Lindow und Mareen Nörtemann.
Das Team der Kinderschutzambulanz im Elisabeth-Krankenhaus Essen (v.l.): Dr. Melanie Anheyer, Yvonne Catalano-Deppe, Dr. Kristina Gärtner, Anna Weber, Christopher Lindow und Mareen Nörtemann. © Essen | Uwe Ernst

In den klaren Gefährdungsfällen ist Eile geboten, der Handlungsdruck hoch. Langfristig schaden könne Kindern aber auch Verwahrlosung. „Wir machen da für das Jugendamt Risikoabschätzungen bei vernachlässigten Kindern, welche seelischen und körperlichen Folgen für ihr Aufwachsen zu erwarten sind.“ Den Eltern mache die Kinderschutzambulanz klar: So geht es nicht!

„Das Kind muss ja längst nicht immer aus der Familie genommen werden, aber Hilfe ist in den meisten Fällen nötig.“ Man versuche den Familien zu vermitteln, dass das Jugendamt sie unterstützen werde, ob mit Beratung oder Haushaltshilfe.

Oft seien die Eltern ja nicht bösartig, sondern selbst belastet, durch die eigene Kindheitsgeschichte, Drogenkonsum, Geldsorgen, psychische Erkrankungen. „Da ist schon viel Überforderung.“ Und leider, auch das hat die Medizinerin beobachtet, wenig Einsicht, Eingestehen. Meist werde erstmal abgestritten, irgendwann heiße es dann vielleicht: „Da könnte doch etwas passiert sein.“

Manchmal pöbeln Verwandte auf dem Krankenhausflur

In einigen Fällen gebe es überhaupt kein Schuldbewusstsein. „Erziehung findet in anderen Kulturkreisen anders statt. Wir hören dann schon mal den Satz: ,Das ist bei uns so.’“ Manchmal sei es für sie als Frau schwer, den betreffenden Eltern klarzumachen, dass ihr Verhalten nicht in Ordnung ist. „Da muss ich schon mal einen männlichen Kollegen holen, der mit den Eltern spricht.“ Auch Dolmetscher hole man hinzu. So habe man übrigens auch schon vermeintliche Verdachtsmomente ausräumen können.

Beratung, wenn ein Kind gefährdet sein könnte

Die Kinderschutzambulanz im Essener Elisabeth-Krankenhaus ist eine Beratungseinrichtung, an die sich alle Akteure wenden können, „die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten und eine Schädigung oder Gefährdung ihres körperlichen oder psychischen Wohlseins vermuten“, heißt es im Flyer der Einrichtung.

Das Team der Kinderschutzambulanz kommt alle sechs Monate mit den Kollegen der Uniklinik, Obleuten der Kinderärzte, Rechtsmedizin, Polizei, Staatsanwaltschaft, Familiengericht, Jugendamt und Psychologischer Beratungsstelle der Stadt zusammen.

Alle drei Monate kommt das Jugendamt in die Kinderschutzambulanz. Dann werden Fragen der Zusammenarbeit besprochen.

Kontakt zur Kinderschutzambulanz per Mail an: kinderschutz@contilia.de oder telefonisch unter 0201 897 3352, im akuten Notfall über die Zentrale Notaufnahme: 0201-897 3331

Es komme vor, dass Mütter oder Väter aggressiv werden oder dass der Großvater auf dem Flur vor dem Behandlungszimmer pöbele. Anspannung herrsche übrigens nicht nur, wenn das Jugendamt die Familien schicke, sondern auch wenn die Eltern von sich aus kommen: In 90 Prozent dieser Fälle seien das Trennungssituationen, bei dem ein Elternteil dem anderen vorwerfe, dem Kind zu schaden. Belastend sei schon dieser Streit für das Kind. Wie sehr, ermittle am besten die Psychologin, im Einzelgespräch mit dem Mädchen oder Jungen.

Das Kind wird nackt untersucht: So fallen auch alte Narben auf

Bei der körperlichen Untersuchung dulde man die Anwesenheit der Eltern eher, etwa wenn sich ein Kind sonst nicht komplett ausziehen wolle. Wenn es sich sofort entkleide und Fremden gegenüber enthemmt sei, könne das ein Alarmsignal sein.

Das Kind nackt zu sehen, sei in jedem Fall wichtig. Das gelte auch für die kleinen Patienten, die über die Notaufnahme ins Elisabeth-Krankenhaus kommen. So falle bei der Untersuchung der verwahrloste Zustand auf, alte Narben oder Wundmale: Und der Notfall werde zum Fall fürs Kinderschutzteam.

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