Essen. Sogar für Kleinkinder, die in Obhut genommen werden, gibt es laut Kinderschutzbund oft keine Unterbringung in Essen. Sie kommen in andere Städte.

Mit ernster Sorge beobachtet der örtliche Kinderschutzbund, dass in Essen immer mehr Fälle von sexualisierter Gewalt gegen Kinder bekanntwerden. Auch sei die Zahl sämtlicher Kindeswohlgefährdungen so gestiegen, dass es häufig unmöglich sei, in Obhut genommene Kinder heimatnah unterzubringen. „Viele Kinder müssen abgewiesen werden und kommen dann in anderen Städten unter“, sagt der Vorsitzende des Kinderschutzbundes, Ulrich Spie. Allein die beiden Notaufnahmen des Vereins hätten im ersten Halbjahr schon 352 Anfragen erreicht – 330 musste man wegen Platzmangels ablehnen.

Essener Kinder leiden unter Spätfolgen der Pandemie

In Essen spiegelt sich damit eine bundesweite Entwicklung wider: Im Jahr 2022 stellten die deutschen Jugendämter bei knapp 62.300 Kindern oder Jugendlichen eine Kindeswohlgefährdung fest – das sind mehr Fälle als je zuvor. Der Kinderschutzbund geht davon aus, dass sich hier auch Spätfolgen der Corona-Pandemie zeigen: „Durch die Lockdowns und Kontaktbeschränkungen waren viele Familien gezwungen, viel Zeit auf engem Raum miteinander zu verbringen. Die zum Teil daraus entstandenen oder sich verschärfenden Probleme in den Familien zeigen sich nun mit Verspätung“, sagt Ulrich Spie.

„Denn wenn nicht genug Plätze vor Ort vorhanden sind, bedeutet das, dass Kinder weit entfernt untergebracht und aus ihren vertrauten Kitas, Schulen und Beziehungsfeldern herausgenommen werden müssen. Das wollen wir nicht akzeptieren“, sagt Ulrich Spie, der Vorsitzende des Essener Kinderschutzbundes.
„Denn wenn nicht genug Plätze vor Ort vorhanden sind, bedeutet das, dass Kinder weit entfernt untergebracht und aus ihren vertrauten Kitas, Schulen und Beziehungsfeldern herausgenommen werden müssen. Das wollen wir nicht akzeptieren“, sagt Ulrich Spie, der Vorsitzende des Essener Kinderschutzbundes. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Wenn sich die Entwicklung ungebremst fortsetzte, müssten die beiden Kindernotaufnahmen „Kleine Spatzen und „Spatzennest“ bis zum Jahresende mit 700 Anfragen rechnen. In den beiden Vorjahren waren es 407 und 445 Anfragen, auch schon eine deutliche Überlastung: Die beiden Einrichtungen haben zusammen 26 Plätze. Zwar sollen Kinder zwischen zwei und zwölf Jahren dort in familiären Krisensituationen nur ein Zuhause auf Zeit finden, so dass in diesem Jahr schon 45 Kinder zeitweise in einem der beiden Häuser lebten. Doch nur 22 von ihnen wurden neu aufgenommen; von den aktuellen Fällen waren bis auf drei alle jünger als sechs Jahre.

Bis zu 400 Anfragen in ganz Deutschland nach einem Heimplatz für ein Kind

Es sei ein Missstand, dass man viele dieser Klein-, Kita- und Schulkinder nicht aufnehmen könne, sagt Ulrich Spie. „Denn wenn nicht genug Plätze vor Ort vorhanden sind, bedeutet das, dass Kinder weit entfernt untergebracht und aus ihren vertrauten Kitas, Schulen und Beziehungsfeldern herausgenommen werden müssen. Das wollen wir nicht akzeptieren.“ Daher plane man ein drittes Schutzhaus für Kinder, sagte der Vorsitzende des Kinderschutzbundes.

Spenden für drittes Kinderschutzhaus benötigt

Der Essener Kinderschutzbund und das Jugendpsychologische Institut (JPI) haben die Fachstelle „Spezialisierte Beratung bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche“ gegründet. Die vier Mitarbeiterinnen hatten seit Jahresbeginn 320 Anfragen. Sie sind erreichbar unter: 0201/202012 (Kinderschutzbund) oder 0201/88-51333 (JPI).

Weil die Kindernotaufnahmen „Kleine Spatzen“ und „Spatzennest“ zu viele Anfragen erreichen, plant der Kinderschutzbund ein drittes Schutzhaus. Dafür sei man auf Spenden angewiesen. Infos telefonisch: 0201-49 55 07 55 oder auf: www.dksb-essen.de

Die Stadt Essen sucht Pflegeeltern: Am Donnerstag, 28. September, gibt es dazu zwei offene Beratungen für Interessierte; 10 bis 13 Uhr Sozialer Bürgerservice, Marktstraße 22 in Borbeck, sowie 16 bis 19 Uhr Stadtteilbüro „Kraysel“, Heinrich-Sense-Weg 25 in Kray.

Jugendamtsleiter Carsten Bluhm hatte bereits in diesem Juni den Mangel an Schutz- und Heimplätzen für Kinder und Jugendliche drastisch beschrieben. „Wir machen inzwischen 100 Anfragen in ganz Deutschland, um ein Kind unterzubringen, in einem Fall waren es 400.“

„Keiner darf wegschauen. Keiner soll sich schämen, genauer nachzudenken und nachzufragen.“ Um sexualisierte Gewalt gegen Kinder zu verhindern, sei die Aufmerksamkeit aller gefordert, sagt der Leiter des Essener Jugendamtes Carsten Bluhm,
„Keiner darf wegschauen. Keiner soll sich schämen, genauer nachzudenken und nachzufragen.“ Um sexualisierte Gewalt gegen Kinder zu verhindern, sei die Aufmerksamkeit aller gefordert, sagt der Leiter des Essener Jugendamtes Carsten Bluhm, © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Verschärft werden dürfte die Situation, weil es bundesweit immer schwieriger wird, „geeignete Pflegefamilien zu finden“, wie die FAZ am Sonntag (13. 8.) berichtete. Das führe dazu, dass nun immer mehr und immer jüngere Kinder – auch Babys – in Heimen untergebracht werden müssten. „Mal für wenige Tage, mal für Wochen, mal für Jahre.“ Das trägt zum einen mit zu den Platznöten in stationären Einrichtungen bei. Zum anderen sind die meisten Heime – anders als die auf kleine Kinder zugeschnittenen Spatzen-Häuser des Kinderschutzbundes – nicht für Kleinkinder, die besondere Nähe brauchen, geeignet. Doch auch die Stadt Essen sucht händeringend nach Pflegeeltern.

Neue Beratungsstelle soll helfen, sexualisierte Gewalt gegen Kinder zu bekämpfen

Ein anderes Problem gehen Kinderschutzbund und das Jugendpsychologische Institut (JPI) der Stadt jetzt forciert an: Um die Hilfsangebote für Missbrauchsopfer zu verstärken, haben sie gemeinsam eine Fachstelle „Spezialisierte Beratung bei sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche“ gegründet. Denn auch hier steigen die Fallzahlen: So wurden im vergangenen Jahr 259 Kinder und Jugendliche in Essen Opfer sexualisierter Gewalt; 2021 waren es noch 242 Kinder. Die meisten von ihnen sind zwischen sechs und 14 Jahre alt.

Die neue Beratung, die gut angenommen werde, schließe eine wichtige Lücke, betont Jugendamtsleiter Bluhm. Das Land habe mit der dauerhaften Förderung der Fachstellen hier „einen Qualitätssprung“ für die betroffenen Kinder bewirkt; einen wichtigen Beitrag dazu leisteten auch der Eigenanteil der Stadt und die Kooperation mit dem Kinderschutzbund. Darüber hinaus könne jeder Essener und jede Essenerin helfen, sexuelle Gewalt gegen Kinder zu bekämpfen, sagt Bluhm: „Keiner darf wegschauen. Keiner soll sich schämen, genauer nachzudenken und nachzufragen.“

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