Essen. Hamid Merhi kam als Flüchtling aus dem Libanon. Als Jugendlicher drohte er ins kriminelle Clanmilieu abzudriften. Wie eine Kamera alles änderte.

Wenn das Leben von Hamid Merhi ein Film wäre, dann wäre es eine Integrationsgeschichte mit fettem Happy End. Geflüchteter Junge aus dem Libanon kommt in der Schulzeit nicht richtig mit, droht ins kriminelle Clan-Milieu abzudriften und wird mit der Kamera ein erfolgreicher Geschäftsmann. Aber Hamid Merhis Leben ist kein Film, die wahre Geschichte spielt im Essener Norden.

Und wer sich das gelungene Ergebnis angucken will, trifft den Filmemacher in seinem Studio in Borbeck. Vorne Altreifen, hinten modernste Kameratechnik. An der Wand hängen Fotoaufnahmen, das Studien-Diplom von der Internationalen Filmschule Köln. Und eine riesige Schwarzweiß-Fotografie seines Vaters Samir.

Familie von Hamid Merhi kommt in den 1980er Jahren nach Deutschland

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Als die Familie in den 1980ern nach Deutschland kommt, geht es ihnen wie vielen vor dem Bürgerkrieg geflüchteten Libanesen, die damals nur geduldet werden. Als Mhallamiye, wie die arabisch sprechende libanesische Kurden bezeichnet werden, sind sie so etwas wie Staatenlose. Sie bekommen keine Arbeitserlaubnis, haben keine Sprachkenntnisse, keine Perspektive. In der Grundschule fühlt sich der kleine Hamid verloren. Er kann nicht schreiben, rechnen, lesen, starrt teilnahmslos an die Decke und bekommt statt Unterstützung eine dicke Brille aufgesetzt. Ein Außenseiter, der irgendwann kräftig zurückschubst, wenn auf dem Schulhof gerempelt wird.

Hamid Merhi steht vor einem Bild seines Vaters Samir, der schon im Libanon als Kameramann gearbeitet hat.
Hamid Merhi steht vor einem Bild seines Vaters Samir, der schon im Libanon als Kameramann gearbeitet hat. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Heute geht Hamid Merhi auch in Schulen und bietet Video-Workshops an. Der Umgang mit der Kamera sorgt dann für jene Begeisterung, die der Filmemacher als Jugendlicher im Filmkurs damals auch selber verspürt hat. Den ersten Camcorder bekommt er von seinem Vater, der schon im Libanon als Kameramann gearbeitet hat. Im Borbecker Schlosspark entstehen zusammen mit Freunden die ersten kleinen Videofilmchen. „Leute, ich werde eines Tages Musikvideos drehen, die wie kleine Filme aussehen“, verkündet Hamid schon als Zehnjähriger. An der Filmschule in Köln bekommt er später das professionelle Rüstzeug. Da hat die Familie mit der Einbürgerung in Deutschland endlich Fuß fassen können

Seine Videos im Internet wurden über 200 Millionen Mal aufgerufen

Längst ist seine Videofirma eine der ersten Adressen in Essen, der Kundenstamm reicht von Pepsi bis Pampers. „Inzwischen wurden die von mir produzierten Videos im Internet über 200 Millionen Mal aufgerufen“, erzählt Hamid Merhi und lehnt sich auf dem Sofa in seinem Borbecker Studio zurück, das er in der Corona-Zeit ordentlich aufgemöbelt hat. Das Leben meint es mittlerweile ganz gut mit ihm. Seine Frau und die zwei Töchter sind sein Leben, das Filmemachen seine Passion, die Pläne ehrgeizig. „Ich werde einen Spielfilm von Essen für die Welt schaffen.“

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Fürs erste beschäftigt sich Hamid Merhi mit einem Dokumentarfilm über Menschen mit Duldung aus dem Libanon, der 2024 auf die Leinwand kommen soll. Tausende von ihnen sind zwischen 1975 und 1990 wie der junge Filmemacher selbst nach Essen gekommen. Wenn von diesen Libanon-Kurden heute die Rede ist, dann geht es oft um all das, was seit einigen Jahren unter dem Schlagwort Clankriminalität die Schlagzeilen bestimmt: Drogenhandel, Erpressung, Sozialhilfebetrug, Paralleljustiz.

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Hamid Merhi will nicht bestreiten, dass es kriminelle Libanesen gibt, „leider ja“. Aber man dürfe nicht alle Mitglieder einer Volksgruppe in einen Topf werfen, „das soll auch meine Doku rüberbringen“, sagt der Essener Filmemacher und will die vor die Kamera holen, von denen man im Zusammenhang mit arabischen Großfamilien selten höre: Erfolgreiche Zuwanderer wie der Vogelheimer Tortenboss Mohammed Omairat beispielsweise, der mit seinen süßen Kunstwerken nicht nur in den Social-Media-Kanälen zum Star avanciert ist. Unterstützung bekommt Hamid Merhi bei seinem Film-Projekt auch von Monika Rintelen und dem „Unperfekthaus“-Gründer Reinhard Wiesemann, die den jungen Filmemacher unter ihre Fittiche genommen haben und als Produzent und Co-Regisseurin auftreten.

„Irgendwann wirfst du Böller und keiner sagt: Lass das!“

Irgendwer ist immer da für Hamid Merhi. Dafür ist er dankbar. Bei der „Regionalen Arbeitsstelle zur Förderung von Kindern und Jugendlichen aus Zuwandererfamilien“, kurz RAA, bekommt er als junger Student damals Unterstützung und kleine Hilfsjobs, damit er sein Studium bezahlen kann. Und auch in der Schule gibt es Lehrer, die ihn unterstützen. „Meine Eltern waren damals einfach mit sich selber beschäftigt“, sagt Hamid Merhi heute ohne Groll. Aber es ist eben diese fatale Mischung aus Langeweile, falschen Freunden und erzieherischer Vernachlässigung, die auch ihn damals beinahe in die Kriminalität treibt: „Irgendwann wirfst du einen Böller in den Kaugummiautomaten, und es sagt einfach niemand: Lass das!“

Trotzdem dürfe der Duldungs-Status nicht als Entschuldigung dafür herhalten, wenn junge Männer kriminell werden, sagt Hamid Merhi entschieden. Eine Eskalation von Gewalt wie jüngst bei Auseinandersetzungen zwischen Syrern und Libanesen auf dem Salzmarkt betrachtet er mit Sorge, auch wenn da seiner Meinung nach ein paar wenige radikale Randalierer die Menge aufgestachelt habe. „Wer in Deutschland etwas zu verlieren hat, der macht doch nicht so’n Scheiß“, zeigt sich der Mittdreißiger überzeugt. „Aber ich verurteile das auf jeden Fall und kann jeden Biodeutschen verstehen, der sagt: Das geht nicht.“

„Ich denke deutsch, ich träume deutsch“

Dabei ist sein arabischer Name für ihn selber ja immer wieder ein Handicap. Hamid wer? Wenn er im Netz Akquise betreibt, dann nennt sich Merhi deshalb auch mal Phil. Integration heißt für ihn, manchmal eben auch, aus beiden Welten zu schöpfen. Ich bin sehr religiös, nehme aber auch alle deutschen Werte an. „Ich denke deutsch, ich träume deutsch.“ Er selbst bezeichnet sich als „Deutscher mit libanesischer Familiengeschichte“. Eine, mit fettem Happy End.

„Ashayir – Clans: Die eine und die andere Seite“ heißt der Dokumentarfilm, an dem Hamid Merhi intensiv gearbeitet hat. Der Film soll im Mai 2024 in der Lichtburg seine Premiere feiern.

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