Essen. Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck spricht über Missbrauchs-Vorwürfe gegen Kardinal Franz Hengsbach, das Aufklärungstempo und bittere Lehren.
Herr Bischof, „alles muss auf den Tisch, auch wenn Denkmäler fallen“. Das hat Ihr Amtsbruder Georg Bätzing, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, nach den Enthüllungen über Kardinal Franz Hengsbach gesagt. Ist die katholische Kirche im Bistum Essen schon so weit? Liegt alles auf dem Tisch? Oder kommt es noch schlimmer?
Overbeck: Den Wunsch, jetzt alles auf den Tisch zu legen, teile ich auch. Aber ich kann nicht garantieren, dass es nicht vielleicht noch weitere Betroffene gibt, die sich bisher nicht gemeldet haben. Und unabhängig vom „Fall Kardinal Hengsbach“: Prävention, Intervention und Aufarbeitung sexueller Gewalt tragen dazu bei, dass tatsächlich auf den Tisch kommt, was in der Vergangenheit unter dem Tisch geblieben ist. Wir haben heute – vor allem durch die Präventionsarbeit – eine größere Aufmerksamkeit und Wachsamkeit, die dazu führt, dass Missbrauchstaten oder der Verdacht gemeldet werden und aus der Vergangenheit Missbrauchsfälle bekannt werden, weil sich Betroffene jetzt ermutigt fühlen, von ihrem Leid zu erzählen. Wir werden abwarten müssen, was sich im Zusammenhang mit Kardinal Hengsbach durch die weitere Aufarbeitung noch zeigen wird. Gerade weil ich nicht ausschließen kann, dass es weitere Betroffene gibt, habe ich sehr bewusst dazu aufgerufen, dass sich Betroffene oder Hinweisgeber an unsere Ansprechpersonen wenden können. Dabei will ich hier herausstellen: Die Ansprechpersonen sind unabhängig, garantieren Vertraulichkeit und Anonymität.
Es scheint ja, als nähme „der Schrecken der sexuellen Gewalt in der Kirche kein Ende“, so haben Sie es dieser Tage selbst formuliert, und hier und da schien sich auch ein bisschen Empörungs-Routine eingestellt zu haben. Aber der Gründungsbischof als Missbrauchstäter – das hat eine neue Qualität. Welches Gefühl hat Sie persönlich beschlichen, als Sie zum ersten Mal von diesem Verdacht hörten?
Mir geht das sehr nahe. Das ist wirklich eine neue, furchtbare Dimension. Ich gebe zu: Ich konnte und wollte mir nicht vorstellen, dass mein so bedeutender Vorgänger im Bischofsamt ein Missbrauchstäter sein könnte. Deshalb habe ich 2011 auch die Einschätzung aus Rom hingenommen und den „Fall“ als abgeschlossen betrachtet. Jetzt sehe ich: Damals bin ich wohl einem typischen Muster erlegen und habe die Perspektive der Betroffenen nicht an die erste Stelle gestellt. Aus heutiger Sicht hätte ich damals anders handeln müssen, vor allem aber hätte ich das Institut, das unsere Aufarbeitungsstudie durchgeführt hat, auf den Vorgang von 2011 hinweisen müssen. Das war ein Fehler. Dafür habe ich in einem Brief an unsere Gemeinden um Entschuldigung gebeten und auch mit dem Institut schon persönlich gesprochen. Ich weiß, dass das viele Menschen irritiert und enttäuscht hat.
Es ist ein verbreitetes Muster, das Böse in der Kirche nicht wahrhaben zu wollen“
Ein Fehler, wie Sie zerknirscht zugegeben haben. Was ist heute anders als damals, warum reagieren S i e heute so viel anders als damals?
Ich habe in den letzten Jahren sehr viel lernen müssen. Dazu haben vor allem die Begegnungen und Gespräche mit Betroffenen sexueller Gewalt beigetragen, aber auch die vielen Erkenntnisse aus den wissenschaftlichen Studien zur sexuellen Gewalt in der Kirche. Im Jahre 2011 herrschte in unserer Kirche noch sehr stark die Haltung vor, dass nicht sein kann, was so furchtbar ist. Deshalb wurde Betroffenen oft nicht geglaubt – das war ja so bei den Vorwürfen in 2011. Es ist ein verbreitetes Muster, nicht wahrhaben zu wollen, dass die eigene Kirche und die darin wirkenden Personen genauso anfällig für Böses sein können wie andere Menschen auch. Das ist eine Form, sich selbst und die eigene Institution zu schützen – und gleichzeitig Betroffene allein zu lassen und sie einmal mehr zu verletzen, indem ihnen nicht geglaubt wird. Das, was mir dann durch den aktuellen Vorwurf mitgeteilt wurde, hat mich alarmiert: Der Vorwurf ist sehr plausibel. Und deshalb haben wir dann mit dem Erzbistum Paderborn eng zusammengearbeitet und die Vorwürfe aus 2011 neu bewertet. Daher dann die Befürchtung, dass es weitere Betroffene geben könnte. Der Schritt an die Öffentlichkeit war für mich dann keine Frage mehr, auch wenn mir klar war, welche weitreichenden Konsequenzen das haben kann.
Angezeigt wurden die beiden im Raum stehenden Vorwürfe von 1954 und 1967 jeweils mehr als ein halbes Jahrhundert später. Was macht Sie so unglaublich sicher, dass Sie ohne zu zögern von „Fakten“ statt Vorwürfen sprechen, zumal Sie ja den Beschuldigten selbst nicht mehr anhören können?
Es sind Vorwürfe, zu denen es Hintergrundfakten gibt, die sie sehr plausibel machen. Natürlich können Missbrauchstaten nach mehr als einem halben Jahrhundert juristisch kaum mehr bewiesen werden. Entscheidend ist dann zweierlei: Die Prüfung der Plausibilität und die Grundhaltung, Betroffenen mit der Bereitschaft zu begegnen, ihnen zu glauben. Und zwar deshalb, weil wir inzwischen wissen, dass so unendlich vielen Betroffenen Unrecht geschehen ist, weil ihnen nie geglaubt wurde. Aber Sie weisen tatsächlich auf ein Dilemma hin, das sich nicht mehr auflösen lässt: Die Beschuldigten können wir nicht mehr anhören, juristisch wird nicht mehr ermittelt. Würden wir das aber zum Kriterium erheben, wäre diese Form der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt gar nicht mehr möglich und Betroffene blieben mit ihrem Leid weiterhin allein.
„Ich sehe auch, dass wir in der Aufarbeitung sexueller Gewalt an Grenzen kommen“
Ist das nicht Ihre große Zwickmühle – deutlich mehr zu wissen, als all die Gläubigen, die erst einmal nur pauschale Anschuldigungen mit viel Interpretations-Spielraum kennen, und die nun mit ansehen müssen, wie „ihr“ Ruhrbischof von einst, Franz Hengsbach, vom Sockel gestoßen wird?
Auch das ist ein Dilemma, das nicht aufzulösen ist. Wenn die Perspektive der Betroffenen Vorrang hat, dann schließt das vor allem auch deren Schutz ein. Wer sexuelle Gewalt erlitten hat – noch dazu von einer hochgradig idealisierten Persönlichkeit –, geht ein hohes Risiko ein. Viele Missbrauchsbetroffene berichten ja davon, was es für sie bedeutet hat, in ihrer Kindheit nicht gehört zu werden. Und viele von denen, die es wagten, ihre Täter anzuklagen, wurden dafür geächtet. Darum dauert es ja oft so lange, bis sie nach Jahrzehnten doch noch davon zu sprechen wagen und sich öffnen. Es wäre fatal, wenn sie dann wieder erleben müssen, dass ihnen nicht geglaubt wird oder sie gar öffentlich an den Pranger gestellt werden.
Die Radikalität im Umgang mit dieser Identifikationsfigur des Reviers, runter vom Namensschild, weg mit der Skulptur im Domhof – entspringt die mehr Ihrem Wissen um unappetitliche Details der Vorwürfe? Oder ist das nicht zu einem Teil auch der demonstrative Versuch, sich zu distanzieren?
Ich nehme natürlich die teilweise kontroversen Diskussionen um die Skulptur und die Namen von Straßen und Plätzen wahr. Das ist auch ein Ausdruck des Erschreckens, dass die Identifikationsfigur, mit der so viele ideale Zuschreibungen verbunden wurden, plötzlich eine so dunkle Seite aufweist. Ich finde die Entscheidung des Domkapitels sehr klug, jetzt mit dem Betroffenenbeirat ins Gespräch zu kommen, in welcher Weise jetzt unmittelbar am Dom ein Erinnerungsort für die Betroffenen sexueller Gewalt geschaffen werden kann.
So oder so: Sie stellen sich einerseits entschieden auf die Seite der Opfer und müssen andererseits auch so etwas wie neutraler Richter sein. Wie soll das funktionieren?
Ja, da haben Sie durchaus Recht. Ich sehe auch, dass wir in der Aufklärung und Aufarbeitung sexueller Gewalt an Grenzen kommen. Es braucht hier zweifellos unabhängige Unterstützung. In allen Bistümern haben Unabhängige Aufarbeitungskommissionen ihre Arbeit aufgenommen oder befinden sich in der Gründungsphase. Die Kommission für unser Bistum steht kurz vor ihrer Konstitutierung. Eine solche Kommission wird künftig in solchen komplexen Fragen eine sehr wichtige Rolle spielen. Aber letztlich braucht es wohl auch ein deutlich größeres Engagement des Staates, um für die gesamte Gesellschaft die Bekämpfung und Aufarbeitung sexueller Gewalt stärker und vor allem unabhängig zu steuern.
„Wir haben durchaus lange geprüft und abgewogen, wir handeln nicht überstürzt“
Im Volksmund gibt es ein schönes Bild: Wer den Sumpf trockenlegen will, darf nicht die Frösche fragen. Wie stehen Sie zu dem Vorschlag, die Aufklärung solcher Anschuldigungen an eine Art „Wahrheitskommission“ außerhalb der Kirche zu übertragen, so wie es der „Eckige Tisch“ fordert, ein Verein für Betroffene sexueller Gewalt in der Kirche?
Dem stehe ich absolut offen gegenüber! Das könnte ja auch ein Ansatzpunkt für staatliches Handeln sein – und zwar in allen Organisationen und Institutionen. Für unsere Kirche wäre ich dafür jedenfalls bereit. Letztendlich kann keine Organisation unabhängige Aufklärung und Aufarbeitung leisten, wenn es sie selbst betrifft. Das haben wir in der katholischen Kirche lange Zeit nicht eingesehen. Trotzdem stehen wir aber in der Pflicht, Aufarbeitung, Intervention und Prävention sicherzustellen.
Ihr Bemühen, Fehler der Kirche im Umgang mit den Opfern sexueller Gewalt wiedergutzumachen, ist unverkennbar. Aber wie es scheint, kommen viele mit Ihrem Tempo einfach nicht mehr mit. Was hätte es eigentlich verschlagen, noch ein paar Tage ins Land gehen zu lassen, bevor man Tabula rasa macht? Die Kirche hat’s doch auch sonst nie so eilig?
Ich weiß nicht, ob „Tabula rasa“ hier der angemessene Begriff ist. Wir haben ja durchaus lange geprüft und abgewogen, bevor wir an die Öffentlichkeit gegangen sind. Dass der Schock in unserem Bistum und weit darüber hinaus jetzt so groß ist, kann ich verstehen, weil es sich um einen bedeutenden Kardinal handelt. Aber das darf kein Grund sein, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Und trotzdem handeln wir nicht überstürzt. Wir werden die weiteren Schritte der Aufarbeitung in Ruhe angehen.
„Wir werden zurückhaltender sein müssen, Menschen auf einen Sockel zu heben“
Tiefer als Hengsbach ist in Deutschland noch kein Mann der Kirche gefallen. Wo man sich gestern noch an das unwiderstehliche Lächeln des populären Hirten erinnerte, schlägt einem heute die hässliche Fratze des Missbrauchsverdachts entgegen. Was lehrt Sie das über unseren offenbar unwiderstehlichen Drang, liebgewonnene Menschen zu wahren Lichtgestalten zu verklären?
Jetzt zeigt sich erst einmal sehr deutlich, wohin es führt, wenn Persönlichkeiten überhöht und idealisiert werden. Wir werden in der Kirche daraus lernen müssen, deutlich zurückhaltender zu sein, einzelne Menschen aufgrund ihres geistlichen Amtes oder einer hohen Funktion im wahrsten Sinn des Wortes auf einen Sockel zu heben. Dadurch wird zu schnell ausgeblendet, dass jeder Mensch auch Schattenseiten hat und im schlimmsten Fall zu bösartigen Taten fähig ist. Aus den verschiedenen Studien zur sexuellen Gewalt wissen wir ja auch, wie gefährlich die Überhöhung von hochrangigen Persönlichkeiten werden kann. Sie gelten als unantastbar - und wenn sie dann unter dem Deckmantel ihres idealisierten Rufs schreckliche Taten begehen, haben Betroffene keine Chance, weil ihnen nicht geglaubt wird.
Bleibt mithin am Ende also rein gar nichts mehr übrig von den einst so wortreich gepriesenen Verdiensten des Gründerbischofs Franz Hengsbach – nur bloße Verachtung für eine kirchliche Unperson? Oder sehen Sie irgendwo doch Raum für eine versöhnliche Geste, ein Signal der Vergebung. Und wie könnte diese aussehen?
Wie auf längere Sicht eine angemessene Erinnerung an Kardinal Hengsbach aussehen kann, vermag ich heute nicht zu sagen. Seine Verdienste für unser Bistum und unsere Region werden bleiben. Was das nun alles für eine angemessene Erinnerungskultur an Kardinal Hengsbach in Zukunft bedeutet, dafür braucht es jetzt die Aufarbeitung und eine breite Debatte.
Es gibt weitere Meldungen Betroffener, neue Vorwürfe sexueller Gewalt durch Bischof Hengsbach. Kennen Sie die neuen Anschuldigungen? Untermauern sie die bisherigen Vorwürfe?
Nach dem öffentlichen Aufruf haben sich einige Personen bei unseren unabhängigen Ansprechpersonen gemeldet. Die beauftragten Ansprechpersonen führen jetzt Gespräche mit diesen Personen. Es ist derzeit noch offen, ob es hier tatsächlich um weitere Vorwürfe sexueller Gewalt geht. Das wird jetzt zu prüfen sein. Bemerkenswert ist allerdings, dass sich auch Menschen melden, die einfach ihre ambivalenten Erfahrungen mit Kardinal Hengsbach mitteilen wollen. Das wird sicher in einer weitergehenden Aufarbeitung zu berücksichtigen sein.
Kardinal Hengsbach ist in der Westkrypta des Essener Doms begraben. Wie muss man sich diesen Ort morgen vorstellen? Mit Warnhinweis und Erklärtext über sexuellen Missbrauch im Bistum?
Darüber wird das Domkapitel mit mir beraten. Ich weiß natürlich, dass es darüber hinaus auch weitere Fragen zur Person des Gründerbischofs unseres Ruhrbistums gibt, der auf verschiedene Weise als bedeutende Persönlichkeit seiner Zeit im Ruhrgebiet gewürdigt wird.
„Unsere Kirche ist nicht so ,heilig’, wie sie sich oft dargestellt hat und mitunter noch tut“
In Ihrem Brief an die Gläubigen des Bistums haben Sie um Entschuldigung für Ihre Fehler gebeten. „lch will weiterhin ein lernender Bischof sein“, haben Sie geschrieben. Was war die bitterste Lektion dieser Tage?
Zu erkennen, dass ich bei all meinen damaligen Bemühungen, Missbrauch aufzuklären, zu Fehleinschätzungen gekommen bin, die dann auch zu Fehlern geführt haben. Gerade hinsichtlich unserer Aufarbeitungsstudie ist mir heute deutlich geworden, wie sehr ich damals noch in alten Mustern gefangen war und wohl vor allem das Ansehen meines Vorgängers schützen wollte. Dass mir auch nicht im Zusammenhang mit der Aufarbeitungsstudie in den Sinn kam, die Bewertung der römischen Glaubenskongregation in Frage zu stellen und die Forscher auf diesen Vorgang aufmerksam zu machen, ist für mich eine besonders bittere Erkenntnis.
Und ihr Appell zu gegenseitigem Vertrauen und Zutrauen – glauben Sie, dass der ankommt, oder erleben wir in ein paar Wochen Austrittszahlen auf Rekord-Niveau?
Das kann ich schwer einschätzen. Allerdings ist das für mich im Moment auch nicht die vorrangige Frage. Wir haben jetzt alles zu tun, um weiter aufzuarbeiten und zu klären, ob es noch weitere Betroffene gibt. Es wäre doch wieder das alte Muster, wenn wir jetzt das, was die Aufarbeitung zu Tage fördert oder was durch die Prävention an Missbrauchsfällen in der Gegenwart offenlegt, zu verschweigen, weil wir Angst vor den Folgen im öffentlichen Ansehen haben. Sexuelle Gewalt ist eine furchtbare Realität, der wir uns zu stellen haben – nicht nur in der katholischen Kirche. Wir erleben allerdings derzeit ein regelrechtes Erdbeben, weil mit dem „tiefen Fall“ einer bischöflichen Identifikationsfigur auch eine Idealvorstellung von Kirche zerbricht. Unsere Kirche ist nicht so „heilig“, wie sie sich oft dargestellt hat und es zuweilen immer noch tut. Das ist schwer auszuhalten und mir ist bewusst, wie sehr das viele Menschen in unserem Bistum gerade zerreißt. Aber es führt kein Weg daran, uns dieser bitteren Realität zu stellen. Das ist ein Teil von Aufarbeitung.