Essen. Die sozial engagierte Sozialdemokratin war zehn Jahre lang, von 1989 bis 1999, Stadtoberhaupt und starb jetzt im Alter von 86 Jahren.

Zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, kann ein ganzes Leben verändern, man kennt das ja, aber natürlich geht es auch andersherum: Zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle zu stehen, und sei’s auf einer schnöden Kandidatenliste aus Papier, katapultiert einen mitunter in eine andere Welt, ohne Rückfahrticket. So wie an jenem 18. Oktober des Jahres 1989, als aus der Stadtwerke-Mitarbeiterin Annette Jäger, 52, eine der wenigen „Roten“ im tiefschwarzen Heisingen, die neue Essener Oberbürgermeisterin wurde. Und Ursache dafür war ein Polit-Unfall allererster Güte.

Denn ausgeguckt für eine zweite Amtszeit als Stadtoberhaupt war ein ebenso streitbares wie auch umstrittenes Polit-Schwergewicht: der Bundestagsabgeordnete Peter Reuschenbach. Bei der Abstimmung im Rat – die OB-Direktwahl wurde ja erst 1999 eingeführt – verweigerten allerdings gleich acht Gegner aus den eigenen sozialdemokratischen Rats-Reihen der SPD-Liste die Stimme. Also zog Reuschenbach eine von zwei vorbereiteten Reden aus der Tasche, erklärte verbittert, warum er die Wahl nicht annehmen wolle, und damit rückte die als zweite Bürgermeisterin vorgesehene Genossin Jäger einen Listenplatz vor.

Ob ihr da schon so richtig klar ist, was auf sie zukommt? Der damalige Chef der Essener Stadtverwaltung, Oberstadtdirektor Kurt Busch, nimmt Annette Jäger kurz nach der überraschenden Wahl tröstend in den Arm.
Ob ihr da schon so richtig klar ist, was auf sie zukommt? Der damalige Chef der Essener Stadtverwaltung, Oberstadtdirektor Kurt Busch, nimmt Annette Jäger kurz nach der überraschenden Wahl tröstend in den Arm. © Georg Lukas

Sie wäre jetzt automatisch gewählt, hat nur ein paar Sekunden Zeit zu überlegen. In der Erinnerung an jenen Eklat mischt sich die tumultuöse Empörung über die SPD-Abtrünnigen im Ratssaal mit dem Blitzlicht-Gewitter der Fotografen. Tut sie’s, oder tut sie’s nicht?

Ein Platz auf der Titelseite – neben Erdbebentoten und dem gestürzten Erich Honecker

Sie tut’s. Plötzlich Oberbürgermeisterin. Ein Kuriosum allererster Güte, das ihr an diesem nicht gerade nachrichtenarmen Tag einen Platz auf den Titelseiten der Zeitungen beschert: gleich neben den 270 Toten eines schweren Erdbebens in Kalifornien und dem Sturz von DDR-Staatschef Erich Honecker durch einen gewissen Egon Krenz.

Im Foto-Archiv schlummert dazu noch jenes Schwarz-Weiß-Bild, das den damaligen Chef der Essener Stadtverwaltung, Oberstadtdirektor Kurt Busch, zeigt, wie er eine konsternierte Annette Jäger fest im linken Arm hält – so als würde er da jemandem Halt geben müssen, dem im Angesicht des neuen Amtes womöglich gleich die Beine ihren Dienst versagen.

Freischwimmen nach dem „Sprung ins kalte Wasser“ des Oberbürgermeisterinnen-Amtes

Aber weit gefehlt: Annette Jäger bleibt standhaft, und absolviert schon am nächsten Tag die ersten Termine – empfängt auf Vermittlung eines gemeinnützigen Vereins für Entwicklungshilfe zwei afrikanische Frauen im Rathaus, eröffnet die Spiele-Messe an der Norbertstraße und weilt am Abend zur Tennis-Gala in der Grugahalle. 70- bis 80 Stunden-Wochen sind fortan keine Seltenheit und Schritt für Schritt scheint sie sich nach dem „Sprung ins kalte Wasser“, wie sie ihre Wahl stets nennt, freizuschwimmen.

An ihrem Schreibtisch im dritten Stock des Ratstraktes: Oberbürgermeisterin Annette Jäger an ihrem letzten Arbeitstag im September 1999.
An ihrem Schreibtisch im dritten Stock des Ratstraktes: Oberbürgermeisterin Annette Jäger an ihrem letzten Arbeitstag im September 1999. © FUNKE Foto Services | Remo Bodo Tietz

Dass sie dabei noch „einigen Nachholbedarf“ hat, bekennt sie ohne Umschweife, weshalb sie sich bei öffentlichen Auftritten an die vorgefertigten Redemanuskripte klammert wie Nichtschwimmer im Freibad an den Beckenrand. Die Zitate griechischer Philosophen, die man ihr dutzendweise in die Texte redigiert, sollen wohl intellektuelle Weitsicht widerspiegeln, die ihr selbst aber nie wichtig ist. Sie will Kümmerin sein, nahbar.

Die neue OB will augenscheinlich mehr Moderatorin sein als Machtmensch

Und punktet mit einem bescheidenen Auftritt und ihrem sozialem Einsatz. Der Kommunalpolitik in Essen, das muss man dazu wissen, geht gerade Ende der 1980er Jahre ein katastrophaler Ruf voraus. Hier muss sich die SPD in jener Zeit von den eigenen Partei-Granden auf höherer Ebene sogar sagen lassen, dass die Genossen sich die Stadt „zur Beute gemacht“ hätten. Umso mehr Sympathien bringt es Annette Jäger ein, dass sie die klassischen Polit-Klischees durch ihre zugewandte unprätentiöse Art des Umgangs aufbricht.

Nach zehn Jahren als Stadtoberhaupt übergibt Annette Jäger die Amtskette 1999 an den neu und erstmals direkt gewählten Oberbürgermeister Wolfgang Reiniger von der CDU.
Nach zehn Jahren als Stadtoberhaupt übergibt Annette Jäger die Amtskette 1999 an den neu und erstmals direkt gewählten Oberbürgermeister Wolfgang Reiniger von der CDU. © Stadtbildstelle Essen | Klaus-Peter Prengel

Die neue OB will augenscheinlich mehr Moderatorin sein als Machtmensch, starke Worte oder große Gesten sind ihr mitsamt der dazu passenden Attitüde so fremd wie kämpferisches Bling-Bling für die Galerie. Vielmehr bedient Annette Jäger – vielleicht auch, weil sie es nicht anders kann – die tiefe Sehnsucht der Bürgerinnen und Bürger nach einem menschlichen Umgang in der vor Streit triefenden Politik, wo sonst nur die großen Strippenzieher das Sagen haben.

Vorwürfe, als „Grüß-August“ nur die Staffage zu liefern, perlen an Jäger ab

So gesehen ist Annette Jäger die Idealbesetzung für die damalige nordrhein-westfälische Gemeindeordnung, die das Management einer mehr als 10.000 Beschäftigte zählenden Stadtverwaltung strikt von den repräsentativen Aufgaben trennt. Gelegentliche Vorwürfe, als „Grüß-August“ nur die Staffage für die Hinterzimmer-Geschäfte der Politik zu liefern, perlen an Jäger ab. Sie verbindet in zehn Jahren als Oberbürgermeisterin die Autorität ihres Amtes mit sozialem Engagement, und wenn sich in der Vergangenheit immer mal wieder der Begriff des „Landesvater“ eingebürgert hat – auf Jäger würde in jener Zeit der Begriff „Stadtmutter“ ganz gut passen.

Kein Wunder dass die SPD seit dem vergangenen Jahr einen Ehrenamtspreis nach ihr benennt, die Partei, der sie seit 1966 angehört, würdigt ihre „bürgernahe und herzliche Art“, sieht sie als „stets engagierte Weggefährtin und Kämpferin für Gerechtigkeit“ in dieser Stadt.

Ehrenring-Träger unter sich: Als Annette Jäger 2011 diese Auszeichnung im Ratssaal verliehen bekam, war „der letzte Krupp“, Stiftungs-Chef Berthold Beitz, als ebenso geehrter Bürger unter den ersten Gratulanten.
Ehrenring-Träger unter sich: Als Annette Jäger 2011 diese Auszeichnung im Ratssaal verliehen bekam, war „der letzte Krupp“, Stiftungs-Chef Berthold Beitz, als ebenso geehrter Bürger unter den ersten Gratulanten. © FUNKE Foto Services | Walter Buchholz

2011 bekommt sie den Ehrenring der Stadt Essen verliehen – als erste Frau in 50 Jahren

Und mit ihr retten die Genossen 1994 tatsächlich und für manchen überraschend noch einmal ihre absolute Ratsmehrheit. Es ist müßig zu sinnieren, welchen Anteil die Oberbürgermeisterin hat, die ihre zweite Amtszeit wie die erste führt: unspektakulär. Mit der neuen NRW-Gemeindeordnung, die 1999 das Management der Stadtverwaltung und die Repräsentation in einem Amt vereint, ist ein anderer Typus OB gefragt. Detlev Samland kandidiert, verliert krachend, und Annette Jäger zeiht sich ohne viel Aufhebens zurück, macht als zweite Bürgermeisterin mit deutlich weniger Bürger-Kontakten noch einmal zehn Jahre weiter.

2011 bekommt sie wegen ihre vielfältigen Verdienste ums Gemeinwohl den sehr selten verliehenen Ehrenring der Stadt verliehen – als erste Frau unter neun Geehrten in einem halben Jahrhundert. Eine „große Persönlichkeit“ lobt die SPD, sie selbst würde womöglich widersprechen: Sie habe ja, sagte sie einmal in einem Interview, „eigentlich immer Glück gehabt“.

Am Wochenende ist Annette Jäger im Alter von 86 Jahren gestorben.

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