Essen. Vier Fensterstürze von Kleinkindern binnen drei Wochen: Neben der Polizei ist auch das Jugendamt aktiv. Einjähriger noch in akuter Lebensgefahr.

Vier Kleinkinder fallen binnen drei Wochen aus Essener Wohnungen und werden schwer oder lebensgefährlich verletzt – diese in Essen nie dagewesene Häufung solch schrecklicher Unglücke ist alarmierend. Die Behörden gehen bislang von tragischen Unfällen ohne aktives Fremdverschulden aus. Untersucht werde aber dennoch, ob Eltern ihre Fürsorge- und Aufsichtspflicht verletzt haben könnten, beschreibt Polizeisprecher René Bäumle das Standardprozedere der aktuellen Ermittlungen. Im Essener Jugendamt geht derweil die Sorge um denkbare Wiederholungsfälle um – und die Suche nach Antworten auf die Frage los, wie sie sich verhindern lassen können.

Die Ärzte kämpfen weiter um das Leben eines Einjährigen, während sich der Zustand einer Vierjährigen stabilisiert hat. Der Junge und das Mädchen waren am Dienstag im Abstand von nur wenigen Stunden an der Max-Reger-Straße im Südviertel beziehungsweise an der Vogelheimer Straße in die Tiefe gestürzt.

Erst am 8. Juni war ein dreijähriges Mädchen aus dem ersten Stockwerk eines Mehrfamilienhauses in Holsterhausen gefallen. Drei Tage zuvor war ein eineinhalb Jahre altes Kleinkind aus dem zweiten Stock eines Hauses in Kray gestürzt.

Das Jugendamt geht in die betroffenen Familien

Die Sozialen Dienste des Jugendamts haben in allen Fällen ihre Recherchen begonnen, um sich ein Bild von den Familien zu machen. Es wird analysiert, ob es Hilfen, vielleicht auch seelsorgerischen Beistand braucht, ob es womöglich Erklärungsmuster oder Parallelen gibt und welche Maßnahmen sinnvoll sein könnten, um weiteren Unglücke vorzubeugen.

Eine Erkenntnis zumindest ist banal: Der aktuelle ist beileibe nicht der erste heiße Sommer der jüngeren Vergangenheit und Fenster zu öffnen, um frische Luft hereinzulassen, keine neue Erfindung. Dennoch gibt es aktuell diese dramatische Häufung. Hat sich womöglich etwas an der Aufmerksamkeit von Eltern gegenüber ihren Kindern geändert?

Diese Frage, heißt es, ließe sich pauschal nicht beantworten, jedenfalls nicht auf Grundlage der bedauerlichen aktuellen Fälle, solange die Untersuchungen nicht abgeschlossen sind. Jeder von ihnen könnte am Ende der Erkenntniskette anders gelagert sein. Es gibt allenfalls ein Zwischenfazit und das lautet: „Wir gehen davon aus, dass es sich um ein unglückliches Zusammentreffen mehrerer Fälle handelt“, sagt Stadtsprecherin Silke Lenz.

Über die Gefahren von geöffneten Fenstern informieren

Fest steht allerdings auch: „In allen Fällen haben sich die Kinder ohne, dass es die Eltern bemerkt haben, an das geöffnete Fenster begeben und sind dort hinausgestürzt“, so Lenz. Womöglich hat die ständig notwendige Aufklärung und Sensibilisierung über und für alltägliche Gefahren, denen die Jüngsten ausgesetzt sind, die Mütter und Väter während der Lockdowns in der Corona-Pandemie nicht im ausreichenden Maß erreicht, räumt die Stadt ein.

Die Frage, ob die betroffenen Familien bereits im Fokus des Jugendamts waren, beantwortet die Behörde „aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht“.

„Die Fälle geben aus unserer Sicht Anlass, über die Gefahren von geöffneten Fenstern zu informieren und Eltern insbesondere kleinerer Kinder, die Gefahren nicht realistisch einschätzen können, zu sensibilisieren“; erläutert Lenz: „Wir appellieren an alle Eltern, trotz der heißen Temperaturen solche Gefahrenquellen im Blick zu haben. Besonders kleine Kinder können Gefährdungssituationen nicht richtig einschätzen.“

Wenn Eltern von ihren Kindern überrascht werden

Eltern sollten sich zudem ein paar Dinge bewusstmachen: Kinder entwickeln erst im Alter von circa acht Jahren ein „antizipierendes Gefahrenbewusstsein“. Das heißt: Erst dann wissen sie, dass sie sich beim Herunterfallen verletzen können und überlegen, ob sie hochklettern und dieses Risiko eingehen wollen.

Bis zu einem Alter von vier Jahren machen Kinder besonders schnelle und viele Entwicklungsschritte. So können sie von einem auf den anderen Tag die Fähigkeit entwickeln, sich an Gegenständen hochzuziehen oder darauf zu klettern. Nicht selten überraschen sie so ihre eigenen Eltern, die ihren Nachwuchs in dieser Phase genauso häufig unterschätzen.