Emmerich. Bei der Pogromnacht im Jahr 1938 wurden auch in Emmerich Geschäfte zerstört und jüdische Mitbürger wie Vieh durch die Stadt getrieben.
Mit der Ausgrenzung der Juden aus dem öffentlichen Leben begannen die Nationalsozialisten praktisch ihre Machtübernahme im Jahr 1933. Doch in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 bekam die organisierte und gelenkte Gewalt gegen Juden ein neues Ausmaß. In den später verharmlosend als Reichskristallnacht bezeichneten Stunden wurde im gesamten Deutschen Reich systematisch durch die braune Parteiführung ein wütender Mob gegen jüdische Geschäfte, Synagogen und Privathäuser mobilisiert – auch in Emmerich.
Am Fischerort 10 stand das Textilhaus Moritz Leffmann. Im Jahr 1938 wurde es von den Schwestern Henriette Levy und Helene Claeßen, geborene Levy, sowie deren Sohn Hans geführt. Die Hetze gegen Juden wurde nicht erst in den November-Tagen mit der Pogromnacht deutlich. Schon zuvor hatten Parteifunktionäre in Zivil oder auch uniformierte SA-Männer die Kunden kontrolliert. Der Slogan „Deutsche! Wehrt euch! Kauft nicht beim Juden!“ sollte auch in Emmerich umgesetzt werden.
Die riesigen Schaufenster waren zertrümmert
Als in den frühen Morgenstunden des 10. Novembers erste Angestellte des Textilhauses am Fischerort eintrafen, konnten sie ihren Augen nicht trauen. „Die riesigen Schaufenster zertrümmert, die Auslagen, die Schaufensterpuppen lagen auf der Straße. Ich stellte mein Fahrrad im Nebeneingang ab und ging ins Geschäft. Frau Claeßen, die Mutter vom Chef, und die Tante traf ich weinend an“, so Maria Kauertz, geborene Bisseling, in einem Interview mit der NRZ aus dem Jahr 2014. Seit 1936 war sie als Lehrling im Textilhaus angestellt.
Im weiteren Verlauf des Vormittags stürmten dann die SA-Männer das Geschäft. Sie schlugen alles kurz und klein. Kanister wurden in den ersten Stock geschleppt, wo sich die Herrenkonfektion befand. Bald stand die Etage in Flammen.
Angestellte sahen die Seniorchefinnen nie wieder
Die beiden Schwestern Henriette Levy und Helene Claeßen, die beide auf die 70 zugingen, wurden abgeführt. Die Angestellten sahen sie nie wieder. Hans Claeßen, damals 33 Jahre alt, wurde ebenfalls abgeführt. „Mein Chef wurde noch einmal gesehen“, erinnerte sich Maria Kauertz über 75 Jahre später. „Er musste mit gefesselten Füßen Pferdeäpfel mit den Händen aufsammeln. Es war eine Schande. Die Claeßens haben vielen Emmerichern Gutes getan.“
Das Schicksal der Familie lässt sich noch heute auf den Stolpersteinen am Fischerort nachlesen. Hans Claeßen wurde 1941 deportiert und starb im Ghetto Litzmannstadt. Seine Mutter Helene wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert. Am 26. September 1942 wurde sie im Vernichtungslager Treblinka ermordet. Diesem Schicksal kam Henriette Levy zuvor, als sie am 14. April 1942 kurz vor der Deportation „in den Tod flüchtete“, wie es auf ihrem Stolperstein heißt.
99 Stolpersteine auf Emmericher Stadtgebiet
Zur Erinnerung an die jüdischen Mitbürger von Emmerich zündeten auch in diesem Jahr wieder Schüler an den insgesamt 99 Stolpersteinen im Stadtgebiet Kerzen an. „Vor dem Hintergrund des stetig steigenden Antisemitismus und Rassismus, geht in jüdischen Gemeinden wieder die Angst um“, so die Vorsitzende von Pro Kultur, Irene Möllenbeck. Daher halte Pro Kultur gerade jetzt, in Zeiten großer Verunsicherung, Zeichen der Erinnerung für besonders wichtig.
Dass sich in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 nicht spontan ein Mob, im damaligen Sprachgebrauch Volkszorn genannt, auf den Straßen sammelte, ist in der Forschung hinlänglich belegt. Der Gewaltausbruch war durch die Nationalsozialisten geplant worden. Herbert Schüürman, der sich bis zu seinem Tod 2016 eindringlich mit den Schicksalen der Emmericher Juden beschäftigt hatte, machte aber auch deutlich, dass die Täter bekannte Gesichter in Emmerich waren: „Das waren alles Einheimische.“
>>> Juristisches Nachspiel nach dem Krieg
Als das Textilhaus Leffmann in Flammen stand, sagte einer der SA-Männer: „Das ist der schönste Tag meines Lebens.“ Wie vielfach in Deutschland konnte sich das Mitglied der Sturmabteilung nach dem Krieg an nichts mehr erinnern.
Die Ereignisse in der so genannten Reichskristallnacht in Emmerich hatten im September 1950 ein juristisches Nachspiel. Gerade mal zwei Haftstrafen von einem Jahr beziehungsweise zehn Monaten wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit und Freiheitsberaubung verhängten die Richter. Allein an der an der Attacke auf das Textilhaus Leffmann sollen sich laut Augenzeugen 30 SA-, NSFK- (NS-Flieger-Korps) und SS-Leute beteiligt haben.
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