Duisburg-Marxloh. Ein Kinderarzt schlägt Alarm: Schon kleine Kinder werden von den Eltern nur vor das Handy und TV gesetzt. Dramatische Lage im Duisburger Norden.

„Der aktuelle Medienkonsum vieler Kinder belastet meine Kinderarzt-Seele“, sagt Dr. Christoph Fangmann. „Wir kämpfen da gegen einen Trend unserer Zeit.“ Der Marxloher Kinderarzt kann Unmengen Geschichten aus seiner täglichen Praxis erzählen. Zum Beispiel die des zweijährigen Mädchens, das zwar perfekt mit dem Handy umgehen, aber noch nicht laufen kann.

Oder die von Müttern, die vor seinem Schreibtisch sitzen und auf dem Smartphone herumdaddeln, während er die Kinder untersucht. „Wenn das Kind nach einer Impfung weint, nehmen viele Mütter es nicht etwa zum Trost in den Arm, sondern halten ihm das Handy vor die Nase, auf dem ein Film läuft.“

Und dann ist da der Säugling mit der plattgelegenen Stelle am Kopf, „weil die Eltern das Smartphone immer auf die gleiche Stelle ins Bettchen gelegt und den Kleinen mit Filmen berieselt haben.“

Duisburger Kinderarzt warnt vor den Folgen des übermäßigen Medienkonsums

Das Handy sei ein Ruhigsteller geworden, der wie eine Droge wirke. „Nimmt man den Kindern das Handy weg, sind sie im wahrsten Sinne des Wortes auf Entzug“, so der Arzt. Früher hat der Arzt das Thema Mediennutzung bei der U7a-Untersuchung (da sind die Kinder drei) erstmals angesprochen – bis er gemerkt hat, dass das Problem schon viel früher beginnt. „Jetzt rede ich mit den Eltern schon bei der U3 darüber, also wenn ihre Kinder einen Monat alt sind.“ Seine Empfehlungen und Warnungen verpuffen nur leider allzu oft.

Experten raten, den Medienkonsum bei Kindern stark zu begrenzen.
Experten raten, den Medienkonsum bei Kindern stark zu begrenzen. © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Robert Michael

„Besonders zu Herzen gegangen ist mir ein fünfjähriger Junge, der jeden Tag zwölf Stunden vor dem Fernseher sitzt und schon unter Schlafstörungen leidet.“ Nachts träume ich davon, habe der Kleine zu ihm gesagt. „Das ist Folter, eine Form von Körperverletzung, aber man sieht keine blauen Flecken.“ Mit den Eltern habe er ein sehr ausführliches und drastisches Aufklärungsgespräch geführt. „Völlig vergeblich. Jetzt sind sie mit ihrem zweiten Kind gekommen. Der Einjährige sitzt auch den ganzen Tag vor dem Fernseher.“

Dass der Medienkonsum längst zu einem gesellschaftlich relevanten Thema geworden ist, beweist die Tatsache, dass die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) vor wenigen Tagen mit der Uni Witten/Herdecke eine neue Leitlinie veröffentlicht hat.

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Sie gibt Empfehlungen, wie lange Kinder vor einem Bildschirm sitzen sollten. Gar nicht, wenn sie noch keine drei Jahre alt sind, sagen die Experten. Die Kleinen sollten weder aktiv noch passiv damit in Berührung kommen. Das bedeutet auch, dass die Eltern im Beisein der Kinder nicht so häufig auf ihr Smartphone schauen sollten.

Dr. Fangmann zählt auf, welche Folgen es haben kann, wenn Kinder sich viel zu viel mit Handys und Fernsehen beschäftigen: „Sie lernen nicht, mit anderen zu interagieren. Sie können sich nicht konzentrieren, haben eine niedrigere Aggressionsschwelle. Sie haben Probleme beim Sprechen, bekommen nicht genug Schlaf und leiden unter motorischen Störungen.“ Die Verfasser der Leitlinie warnen zudem vor Kurzsichtigkeit und einem erhöhten Risiko, an ADHS zu erkranken.

Dr. Christoph Fangmann: „Die Situation ist im Norden besonders dramatisch“

Dr. Fangmann treibt das Thema um: „Ich finde es so schlimm, was man den Kindern antut. Ich träume da manchmal nachts von.“ Mit seinen Kollegen hat er sich längst ausgetauscht: „Alle Kinderärzte kämpfen damit, aber nirgends in Duisburg ist es so dramatisch wie im Norden.“ Das liege unter anderem daran, dass die Eltern aus bildungsfernen Schichten kämen und die Mütter oft sehr jung seien, nicht einmal volljährig.

„Viele wissen gar nicht mehr, wie man mit Kindern umgeht. Es wird zum Beispiel überhaupt nicht mehr vorgelesen. Wenn ich einmal im Monat Eltern mit Kinderbuch sehe, ist das schon ein guter Monat.“ Außerdem seien immer mehr Eltern internetsüchtig, so seine Beobachtung. „Die sehen die Gefahren nicht und haben kein Maß mehr für die Kinder.“

Doch was tun? Wie die Eltern erreichen? Da ist auch Dr. Fangmann ratlos. „Ich habe schon mit dem Jugendamt telefoniert und besprochen, was wir machen können.“ Zu einem echten Ergebnis hat das nicht geführt. Auch die Lehrer hätten keine Chance, der Entwicklung entgegenzuwirken: „Das Problem ist längst in der Grundschule angekommen.“

Also wird der Kinderarzt weiter versuchen, mit den Eltern ins Gespräch zu kommen – mit der Hoffnung, wenigstens in einzelnen Familien etwas zu erreichen.

>> Diesen Medienkonsum empfiehlt die Leitlinie für Kinder in verschiedenen Altersstufen

  • Unter 3 Jahren: möglichst keinen Medienkonsum.
  • 3 bis 6 Jahre: höchstens 30 Minuten an einzelnen Tagen und nur begleitet von Eltern.
  • 6 bis 9 Jahre: 30 bis 45 Minuten an einzelnen Tagen vor dem Bildschirm – außerhalb der Hausaufgaben-Zeit.
  • 9 bis 12 Jahre: 45 bis 60 Minuten in der Freizeit. In diesem Alter sollten Kinder frühestens ein eigenes Smartphone bekommen, allerdings mit eingeschränktem Internetzugang. Dann sei auch erst eine eigene Konsole angebracht. Zu der sollten Kinder aber nicht dauerhaft Zugang haben.
  • 12 bis 16 Jahre: maximal ein bis zwei Stunden pro Tag, außerhalb der Hausaufgaben-Zeit und nicht mehr nach 21 Uhr. Das blaue Licht der Bildschirme störe den Schlaf und Medieninhalte können aufwühlen.
  • 16 bis 18 Jahre: Ab 16 kann der Internetzugang uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Die Bildschirmzeit solle durch Regeln festgelegt werden, ein Orientierungswert seien zwei Stunden pro Tag, so die Experten.