Duisburg. Ein Duisburger gab sich jahrzehntelang als Halbbruder Anne Franks aus. Ein Buch entlarvt ihn – nach seinem Tod. Ein Weggefährte erinnert sich.

„Ein phantastisches Leben.“ Einen passenderen Untertitel hätte die Journalistin und Autorin Anja Scherz gar nicht wählen können für ihr Buch, das den Titel „Goldstein“ trägt und im März 2024 erschienen ist. Denn die Geschichte, die sich dem Leser darin nach und nach eröffnet, ist wirklich fantastisch, liest sich wie ein Drehbuch, ein spannender Thriller, und ist gleichzeitig die zärtliche Annäherung an eine unergründliche Person. An eine traurige Figur auch, an einen Lügner, wenn man es hart formulieren will, aber an einen, der nicht aus bösem Willen log.

Diese Figur, die tatsächlich eine echte Person ist, ist Raphael-Maria Goldstein, gestorben Mitte 2021. Ein weitestgehend erfolgloser Regisseur und Schauspieler aus Duisburg, ein mittelmäßig erfolgreicher Schauspiellehrer. Leute aus der Szene könnten ihn gekannt haben, aber auch nicht zwangsläufig. Aber Goldstein hatte etwas, das ihn hervorhob.

Duisburger war Duisburger – und nicht der Halbbruder von Anne Frank

Er ist als Adoptivsohn in der Duisburger Unternehmerfamilie Burger aufgewachsen und bekam den Namen Norbert Hans Burger. Ungefähr als er 30 war, kam er der Wahrheit auf die Schliche. Er ist der uneheliche Sohn der Auschwitz-Überlebenden Esther-Maria Goldstein, die ihn nach seiner Geburt in Amsterdam zur Adoption freigab. Er trifft seine leibliche Mutter in Amsterdam und erfährt den Namen seines Vaters, er besucht diesen in der Schweiz. Es ist Otto Frank. Norbert Burger, nein, Raphael-Maria Goldstein, ist der Halbbruder der weltberühmten Tagebuchautorin Anne Frank.

Ein phantastisches Leben. Und ein erfundenes. Esther Goldstein, zumindest diese Esther Goldstein, hat es nie gegeben, die Treffen mit Otto Frank auch nicht, und Raphael-Maria Goldstein ist der Duisburger Norbert Hans Burger.

Das findet Anja Scherz heraus, als sie auf Bitten von Burgers Witwe dessen Biografie-Manuskript für die Veröffentlichung vorbereitet. Auch andere Stationen seines Lebens, Ausbildung, akademische Titel, Lehraufträge, Treffen mit berühmten Theaterpersönlichkeiten, sind erfunden. Das erfährt die Journalistin in Gesprächen mit Ämtern, Ärzten und Weggefährten – von denen es auch in Duisburg einige gibt.

Anne Frank 1941 in Amsterdam mit ihrer Schwester Margot (links), ihrem Vater Otto und ihrer Mutter Edith am Merwedeplein in Amsterdam-Süd. Einen Halbbruder Raphael-Maria hatte Anne nicht.
Anne Frank 1941 in Amsterdam mit ihrer Schwester Margot (links), ihrem Vater Otto und ihrer Mutter Edith am Merwedeplein in Amsterdam-Süd. Einen Halbbruder Raphael-Maria hatte Anne nicht. © IMAGO/GRANGER Historical Picture Archive | imago stock

„Ich fand ihn cool“: Theaterintendant erinnert sich an Norbert Burger/Raphael-Maria Goldstein

Zum Beispiel Ilse Storb, die einzige Professorin für Jazzforschung in Europa. Als diese Redaktion Storb anruft, geht sie gewohnt fidel ans Telefon, mit 94 Jahren wohlgemerkt. Ob sie sich an einen Norbert Burger erinnert, dem sie mal privat Gesangsunterricht erteilt hat? „Nein, sagt mir nichts. Ich hatte wohl mal einen Studenten, der Burger hieß.“ Das kann er aber eigentlich nicht gewesen sein, trotzdem vielen Dank, Ilse Storb wünscht viel Glück bei der weiteren Suche.

Jazzprofessorin Ilse Storb, hier fotografiert anlässlich ihres 90. Geburtstages 2019, erinnert sich nicht mehr an ihren Duisburger Schüler Norbert Hans Burger (Archivbild).
Jazzprofessorin Ilse Storb, hier fotografiert anlässlich ihres 90. Geburtstages 2019, erinnert sich nicht mehr an ihren Duisburger Schüler Norbert Hans Burger (Archivbild). © Lars Heidrich / FUNKE Foto Services | Lars Heidrich

Vielleicht erinnert sich beim Duisburger Theater jemand an Burger/Goldstein? Schließlich war er von 1983 bis 1993 Theaterreferent in der Stadt, in seinem Manuskript erinnert er sich an hitzige Diskussionen mit dem damaligen Kulturdezernenten und Akzente-Erfinder Konrad Schilling. Und tatsächlich, es erinnert sich jemand an Burger. Allerdings nicht an den Burger, der am Duisburger Theater gearbeitet hat.

Duisburger Schauspielintendant hatte Sprechunterricht bei Norbert Burger

Michael Steindl ist Schauspielintendant in Duisburg, Gründer des Jugendclubs „Spieltrieb“ – und studierte Anfang der 90er Jahre an der „Theaterakademie Spielstatt Ulm“, Sprechlehrer dort: Norbert Hans Burger. „Ich fand ihn cool“, sagt Steindl als erstes, gefragt nach seinen Erinnerungen. „Er war eine andere Art Sprechlehrer. Sonst ging es immer um Stimmsitz, Töne, Artikulation. Bei Raphael ging es plötzlich um Szenen.“

Steindl spricht durchgehend von „dem Raphael“, wenn er erzählt. „Da war nichts mehr mit ‚spüre dein Zwerchfell‘, wir haben Shakespeare-Szenen gespielt und Raphael hat uns herausgefordert. Was meinen wir mit unserem Spiel, was ist unsere Botschaft?“ Er sei zwar nicht sein wichtigster Lehrer gewesen – „aber es war ein sehr befruchtender Unterricht“.

Ich fand ihn cool“
Schauspielintendant Michael Steindl über Raphael-Maria Goldstein/Norbert Burger

Und die ganze Sache mit der jüdischen Herkunft? „Er kam irgendwann nach dem Sommer wieder, als Raphael-Maria Burger. Wenn er auch von Anne Frank erzählt hat, kann ich mich nicht daran erinnern. Ich fand das trotzdem beeindruckend, so einen Biografie-Bruch mitzuerleben, die Entdeckung der jüdischen Herkunft. Man hat ihn noch zwei-, dreimal aus Versehen Norbert genannt, dann hatte man sich an Raphael gewöhnt.“

Duisburger Intendant: „Ein gutes Ego hatte er schon“

Der Namenswechsel habe natürlich aufhorchen lassen, damals in Ulm, er habe Burger eine eigene Aura verliehen. Ob er in irgendeiner anderen Art auffällig war, ob man gar hätte ahnen können, dass da was nicht stimmt? „Nein. Er war halt so ein Künstlertypus, ein gutes Ego hatte er schon. Aber das ist nicht unüblich in der Branche, das kennen wir.“

Michael Steindl, Intendant am Duisburger Theater, erinnert sich an Norbert Hans Burger – und an Raphael-Maria Burger – als sein Sprechlehrer an der Theaterakademie Ulm (Archivbild).
Michael Steindl, Intendant am Duisburger Theater, erinnert sich an Norbert Hans Burger – und an Raphael-Maria Burger – als sein Sprechlehrer an der Theaterakademie Ulm (Archivbild). © FUNKE Foto Services | Tanja Pickartz

Was Michael Steindl so erzählt, deckt sich mit dem, was Anja Scherz von anderen Weggefährten erfahren hat. Aber nicht nur wegen dieser phantastischen, beinahe unglaublichen Geschichte ist das Buch ein fantastisches Werk. Anja Scherz beherrscht eine gefühlvolle Sprache, eine tröstliche, im Angesicht einer Identität, die posthum in sich zusammenfällt – was der Autorin auch persönlich nahegegangen sein dürfte, schließlich ist sie eine Freundin der Witwe.

Goldstein: ein fantastisches Buch

Deswegen verflüchtigt sich der erste Reflex des Lesers schnell, wenn er das Buch aufklappt, die ersten Seiten liest und ja schon grob weiß, dass sich da einer als Halbbruder von Anne Frank ausgegeben hat: unerhört, respektlos, anmaßend, was fällt dem ein. Man merkt nämlich, dass es so einfach nicht ist. Raphael Maria Goldsteins phantastisches Leben hat tiefere Gründe, Unsicherheit, vielleicht auch psychologische Probleme, ein Gefühl der Unzulänglichkeit, noch eine ganze Menge mehr. Jedenfalls hat Norbert Burger nicht aus Böswilligkeit gelogen.

Das zeigt sich übrigens oft in Anja Scherz‘ Gesprächen mit Weggefährten. So richtig überrascht ist niemand, wenn sie Raphaels wahre Identität offenbart, meistens bekommt sie ein gelachtes „Ach, das ist typisch für ihn“ zu hören. Aber nie fällt das Wort „Hochstapler“. Also schon. Aber nur, um zu sagen, dass Raphael-Maria Goldstein keiner war.

>> HIER GIBT ES ANJA SCHERZ „GOLDSTEIN: EIN PHANTASTISCHES LEBEN“

  • „Goldstein: Ein phantastisches Leben“, ist im Verlag „Stroux Edition“ erschienen und trägt die ISBN 978-3-948065-30-0
  • Das bisher nur gebunden erschienene Buch kostet 26 Euro.
  • Autorin Anja Scherz kommt gebürtig aus Unna, wurde in Bonn zur Journalistin ausgebildet und arbeitet heute freiberuflich in München.