Düsseldorf. Wie differenziert betrachten die Pro-Palästina-Demonstranten die Lage – wie radikal? Und wie halten sie es mit der Hamas? Wir sprachen mit ihnen.
Wie radikal ist diese Demo? Die größte Pro-Palästina-Kundgebung in NRW seit Kriegsbeginn zieht am Samstag durch Düsseldorf. „Verurteilung der Kriegsverbrechen gegen die Zivilbevölkerung in Gaza“ ist das Motto – es ist so gewählt, dass man auf den ersten Blick keinen Anstoß nehmen kann. Wer ist nicht für den Schutz der Zivilbevölkerung? Allerdings wird damit implizit unterstellt, Israel habe Kriegsverbrechen begangen. Wie der Beschuss von Zielen in Gaza und die Blockade einzuordnen ist, bedarf sicher einer detaillierten Aufarbeitung. Klar ist jedoch: Die eindeutigen Kriegsverbrechen der Hamas werden während des Zuges nicht öffentlich oder auf Plakaten thematisiert, die israelischen Opfer ausgeblendet.
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„Wir müssen vorsichtig sein, was wir sagen. Alles ist sofort antisemitisch“, sagt eine Teilnehmerin aus Duisburg. Ihre Freundin hält ein Schild, darauf steht auf Englisch: „Wir können den Frieden nicht herbeibomben.“ - Richtet es sich an beide Seiten? „Natürlich“, sagt die Medizintechnikerin aus Duisburg. „Nirgendwo sollen Kinder sterben.“ Sie trägt Kopftuch, hat palästinensische Verwandte und sagt: „Ich bin Deutsche. Ich bin mit Juden und Christen befreundet.“ – „Es geht hier um Verhältnismäßigkeit“, sagt ihre Freundin. Aus ihrer Sicht war der Angriff der Hamas eine Terrorattacke. Durch die Abriegelung und Bombardierung Gazas aber würden noch mehr Menschen sterben. „Ich bin so enttäuscht von der Einseitigkeit der deutschen Medien.“
Unter Generalverdacht
„Dass Pro-Palästina-Demos unter dem Generalverdacht des Antisemitismus stehen, kann ich nicht nachvollziehen“, sagt Heinz A. aus Bonn. „Es ist natürlich einfach, aus Demo einzelne Teilnehmer herauszufischen, die Unsinn erzählen, und es dann den Verantwortlichen vorzuhalten.“ A. sieht sich nicht als Aktivist, sondern als politisch interessierter Bürger, „der sich immer für den Palästinakonflikt interessiert hat. Er ist kein regelmäßiger Demonstrant, ist aber nun in einer Woche schon zum zweiten Mal auf der Straße. „Ich sehe den Beginn eines Genozids, wenn die Abriegelung so weitergeht.“ – Und der Angriff der Hamas? – „Ich lehne Gewalt gegen Zivilisten kategorisch ab. Aber ich bin hier nicht in der Lage, die Palästinenser zu beurteilen. 75 Jahre Besatzung sind der historische Kontext.“
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Düsseldorfs Oberbürgermeister Stephan Keller (CDU) erklärte am Mittwoch vor der Düsseldorfer Synagoge, dass Solidarität mit den Hamas-Angreifern eine Verhöhnung der Opfer sei. Oded Horowitz, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, forderte am Samstag kurz vor Start der Kundgebung ein Verbot von solchen „Demos, die sich zu Gewalt gegen Juden entwickeln“. Tatsächlich äußern sich die Demonstranten, die mit der Presse reden, vorsichtig, abgewogen. Aber sie eint offenbar eine Grundüberzeugung: Israel ist in diesem Konflikt der Täter und aktuell der Angreifer. Die Terrorattacke der Hamas auf Israel wird entweder ausgeklammert oder relativiert. Den Angriff auf Israel zu verurteilen, fällt vielen Demonstranten schwer.
„Massenmörder Israel, Kindermörder Israel“, rufen die nach Polizeischätzung 6900 Demonstranten im Einklang. Es sind mehr als dreimal so viele wie erwartet. Geschätzt haben über 90 Prozent einen Migrationshintergrund. „Deutschland finanziert, Israel bombardiert“ skandieren sie und „Hoch die Internationale Solidarität.“ Es bleibt friedlich, wie die Polizei bestätigt. Ebenso die weit kleineren Demos in Essen (350 Teilnehmer) und Gelsenkirchen(150). Vom Hauptbahnhof zum Landtag am Rhein ziehen sie, mitten durch die Stadt mit der größten jüdischen Gemeinde in NRW, mit einem Schlenker über die Königsallee. Hier hat sich eine Menschenmenge angesammelt, die das Geschehen beobachtet. Ein Mann ruft den Demonstranten entgegen: „Stoppt das Massaker in Israel!“
„Pro Palästina ist nicht pro Hamas“
Die Explosion im Al-Ahli-Krankenhaus in Gaza mit vielen Toten hat wohl zur Mobilisierung beigetragen, glauben auch Tülin B. (48) und Pinar A. (37) aus Remscheid. Sofort beschuldigte die Hamas Israel. Die israelische Armee erklärte darauf, die Terrororganisation Islamischer Dschihad trage die Schuld, eine Rakete sei außer Kontrolle geraten. Satellitenaufnahmen und Krateranalysen sollen das stützen. Tülin B. und Pinar A. wissen nicht, wem sie glauben sollen, den Medien misstrauen sie. „Ich stehe für einen friedlichen Islam“, sagt die Jüngere der beiden Türkinnen. „Hamas hat nichts mit Palästina zu tun. Genau so wie Juden nicht mit Israel gleichzusetzen sind. Und natürlich hat Israel ein Existenzrecht, genau wie Palästina. Aber das heißt nicht, dass man dulden muss, wie durch den Siedlungsbau Palästina auf ein Minimum schrumpft. Dieser Konflikt ist ungerecht.“
„Ich bin für die Gerechtigkeit hier, ich komme aus Marokko“, sagt Adil (43) aus Wuppertal, er führt ein Unternehmen. „Ich sehe, dass unschuldige Menschen, Kinder, kein Wasser, keine Grundversorgung mehr haben. Ich bin für Frieden hier, für Palästina und für die Juden auch.“ – Wie er den Angriff der Hamas beurteilt? –„Was würden Sie tun, wenn Sie einen Garten haben und es nimmt ihnen jemand ständig Stücke weg?“ – Und die israelischen Kinder, die bei dem Angriff ermordet wurden? – „Dafür gibt es keine Beweise. Ich glaube nicht, dass die Hamas sowas machen würde.“ – Aber zum Beispiel das Massaker auf dem Festival, das ist doch gut belegt. – „Ich glaube nicht, dass es so passiert ist. Und wenn doch, hat Israel jetzt einmal erlebt, was in Gaza der Dauerzustand ist.“
Ein Sozialpädogoge aus Moers trägt ein „Free Palestine“-Schild vor sich her. Warum ist er hier? – „Ich bin Vater von vier Kindern“, sagt der Mann. „Gestern habe ihm ein Bekannter palästinensischer Herkunft berichtet, dass seine drei Neffen in Gaza durch einen Raketenangriff umgekommen seien. „Er hat mir ein Video der toten Kinder gezeigt.“ Da habe er beschlossen, auf die Straße zu gehen. Dann sprudelt es aus ihm heraus. „Was die Hamas macht, ist nicht richtig“, sagt er. „Aber wenn man überall diese Siedlungen baut ...“ Damit habe der israelische Staat seine Bürger auf eine Abschusslinie gestellt. Gaza ist für ihn „der größte Freiluftknast, danach kommt gleich Guantanamo.“
Misstrauen gegen Politik und Medien
„Ich bin Kurde, ich weiß wie es ist, scheiße behandelt zu werden“, sagt der Moerser. Er berichtet von Schikanen bei Straßenkontrollen in der Türkei. „Ich würde hier auch für Deutschland stehen. Gerade für Deutschland“, sagt er – und im nächsten Atemzug, dass die Außenpolitik Deutschlands fremdbestimmt, dass die Meinung gesteuert sei. Von wem? – Aus den USA. Er überlegt kurz und sagt: „Ein Foto, eine Überschrift, und morgen bin ich ein Islamist mit meinem Bart. Obwohl ich in meinem Leben nie damit zu tun hatte. Obwohl ich jüdische Freunde habe. Ein Kollege zum Beispiel. Aber mit dem rede ich nicht über diesen Konflikt. Da ist er nicht der Richtige und ich bin es auch nicht.“
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In Jibrils Familie war der Palästinakonflikt immer Thema. Die Eltern seiner Mutter „mussten über den Libanon nach Deutschland fliehen“. Sein Vater stammt aus Marokko, der 15-Jährige ist in Deutschland geboren. „Ich bin hier für die unschuldigen Menschen“, sagt er, auch die Opfer auf israelischer Seite. „Wenn man Unschuldige tötet, ist es immer Terror.“ – „Es hat nicht jetzt begonnen, sondern 1948“, ruft ein anderer Demonstrant herüber. Das ist das Jahr, in dem Israel sich unabhängig erklärte. – In der Schule, sagt Jibril, „haben die Lehrer mit uns über den Krieg geredet, wir sollten uns dann selbst eine Meinung bilden.“ Konflikte mit Mitschülern habe es dabei nicht gegeben. „Ich finde, dass die Medien ein bisschen einseitig sind, und manchmal geraten auch Fake News hinein, wie sie überall herumschwirren.“
„Auch wenn meine Familie nicht betroffen ist, ist es meine Familie“, sagt Iman Hammoud, die sich als Ordnerin bei der Demo engagiert. Ihr Vater ist vor 30 Jahren aus Israel geflüchtet. „Ich bin hier geboren.“ Die 18-Jährige lebt in Iserlohn. „Wir verurteilen auch den Angriff der Hamas“, sagt sie. „Dass wir die Palästinensische Flagge schwenken, heißt nicht, dass wir pro Hamas sind. Antisemitismus soll hier keinen Raum bekommen. Wir stehen mit den Juden zusammen, die auch gegen die Politik des Staates Israel sind.“ – Wäre sie für eine Zweistaatenlösung? Sie seufzt. „Wenn das die Lösung ist, mit der Frieden geschaffen wird.“
Info: Sind Migranten häufiger antisemitisch eingestellt?
Die Essener Stiftung Mercator hat 2022 eine Studie des Sachverständigenrats für Integration und Migration herausgegeben. Kernaussage: Israelbezogener Antisemitismus ist weit verbreitet. Der Aussage „Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat“, stimmte etwa ein Viertel der Befragten ohne Migrationshintergrund zu. Bei den Menschen mit türkischem Migrationshintergrund waren es mehr als die Hälfte. Auch eine aktuelle Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung weist darauf hin, dass unter Bürgern muslimischen Glaubens antisemitische Einstellungen häufiger anzutreffen sind. So waren „26 Prozent der Meinung, dass reiche Juden die eigentlichen Herrscher der Welt sind (Bevölkerungsdurchschnitt: 6 Prozent)“.