Dinslaken. Bei der Exraschicht in der Zechenwerkstatt Lohberg wurde die „Flying Urbania“-Show gezeigt. Was die Artisten zu klassischer Musik gezeigt haben.
„Sozusagen die Nationalhymne“: Das Publikum in der Zechenwerkstatt in Dinslaken reagiert auf diese Ansage begeistert. Wenn die Sänger des MGV Concordia des Bergwerks Lohberg 1916 an der Stätte ihres früheren beruflichen Wirkens das Steigerlied anstimmen, ist dies „Extraschicht“ pur. Denn längst ist die Zechenwerkstatt – wie die anderen Schauplätze der ruhrgebietsweiten „Nacht der Industriekultur“, eine Spielstätte geworden und auch der Leiter des MGV Concordia, der studierte Dirigent, Pianist und Komponist Juri Dadiani, hätte es sich wohl noch vor ein paar Jahren nicht träumen lassen, in Uniform mit Schachthut zu dirigieren.
Der Bergbau hierzulande hat die Arbeitswelt gewechselt: Von der Kohle zur Kultur. Ein lebendes Beispiel dafür ist Reinhold Kämmerer alias Rudi Cash, wenn er als Concordia-Mitglied am Samstag seine Liebeserklärung an „Zeche Lohberg, Turm Schacht 2“ singt.
Aufeinandertreffen der Kontraste
„Maloche“ in der Zechenwerkstatt heute: Seit vielen Jahren arbeitet die Din-Event für den Lohberger Beitrag zur „Extraschicht“ mit Raoul Schoregge zusammen. Dieses Mal wollte er auf den Kontrast zwischen Industriearchitektur und Kulturprogramm, das Aufeinanderprallen zweier weiterer Gegensätze aufsetzen, erklärt der Zirkus-Produzent, Regisseur und aktive Clown (Chinesischer Nationalcircus) das Konzept seiner „Extraschicht“-Show „Flying Urbania“, die in und vor der Zechenwerkstatt am Samstag die Zuschauer in ihren Bann zog.
Extraschicht in Dinslaken-Lohberg
Street-culture trifft auf klassische Musik: nur in konventionellem gesellschaftlichen Denken ein Aufeinandertreffen der Kontraste. Tatsächlich erlebte man gekonnte Körperbeherrschung zu virtuos gespielter Musik, poetische Momente zu lyrischen Melodien und Waghalsiges zu Wagner: passt.
Verrückte Stunts auf dem Fahrrad
Bachs „Air“ unterstreicht die verträumte Stimmung in der illuminierten Zechenwerkstatt. Manege frei für Alexis Brunetaud. Wie auf einem Pferd „reitet“ er in die Fläche zwischen den Tribünen links und rechts entlang der Wände der Zechenwerkstatt ein. Reißt er den Lenker samt Vorderrad in die Höhe und drückt dazu auf die Hupe, „wiehert“ das „scheuende“ Bike.
Und dann beginnt der Parcours: Brunetaud springt mit dem Fahrrad von Podest zu Podest, es sind locker zwei Meter, die er auf dem Hinterrad hüpfend überbrückt. Dann holt er einen Jugendlichen aus dem Publikum, bittet ihn, sich, alle viere von sich gestreckt, auf den Boden zu legen. Dann spielt der Artist zur Musik von Bizet mit dem erstaunlich gelassenen Jungen „Meine Mutter schneidet Speck“ mit dem hüpfenden Bike als „Messer“.
Szenenwechsel: Griegs „Morgenstimmung“. Wang Xiang Yang stapelt das Geschirr fürs Frühstück auf seine Weise: Er balanciert auf einer Wippe, die ihm zugleich als Schleuderbrett für Schalen und zum Schluss einen Löffel dient: Requisiten, die er mit dem Kopf auffängt und dort in luftiger Höhe stapelt. Wang Hou zeigt seine Diabolo-Künste zur „Höhle des Bergkönigs“, zum Finale von „Schwanensee“ werfen sich die beiden mit Li Dong Sheng die Strohhüte zu.
Zuvor raste die Chinese-Pole-Artistin Sabeth Dannenberg kopfüber die Stange herunter oder verharrte auf halber Höhe im Lotussitz. Aus den Boxen tobte dazu ein Violinen-Gewitter: Vivaldis „Frühling“ in der Kennedy-Version.
Motorräder rasten in einer Gitterkugel
Doch auch das war nicht das Riskanteste des Abends. Er sieht in sich ruhend aus und fügt sich in ihrem Stahlgitter-Design perfekt in die Optik der alten Zechenwerkstatt ein: Der Speed-Globe in der Mitte der Halle hat einen Durchmesser von 4,20 Meter, wiegt zwei Tonnen und wird von vier Spannseilen gehalten. Enorme Kräfte wirken auf die Kugel, wenn man alleine mit einem schweren Motorrad in dieser Kugel herumrast.
Wenn die kolumbianischen „Universal Drivers“ Victor, Jonathan und Leo zu dritt in diesem Kammer-kleinen Globe zu Wagners „Walkürenritt“ mit ihren Motorrädern herumrasen, drängt sich – neben der Faszination am Unfassbaren – nur noch eine Frage auf. Ja, man weiß es, der Mensch als solches ist verrückt und nicht das rationale Wesen, für das er sich gerne hält. Aber warum in aller Welt macht man so etwas? Victor gibt im Gespräch mit der NRZ die Antwort: „Ich liebe Adrenalin. Ich liebe das Risiko. Ohne dem kann ich nicht sein“. Es muss der Adrenalinkick sein, den der Körper in höchster Gefahr ausstößt, der die Artisten nach ihrer Show süchtig macht.
Verrückt und artistisch geht es auch draußen auf dem Platz unterm Fördergerüst weiter. Hier schwingen allerdings auch Humor und die Leichtigkeit des Seins mit. Die TNT Crew aus Belgien hat das Trampolin zu ihrer Bühne gemacht. In Hawaii-Hemden hüpfen die drei Artisten vor ihrer Sommer-Sonnen-Kulisse mit aufgemalten VW-Bus herum, schlagen Purzelbäume und springen wie die Tiger durch die Hula-Hoop-Reifen. Und da die Kulisse zwei Türen in luftiger Höhe hat, können die fröhlichen Trampolin-Springer ihre Bühne in ein Wetterhäuschen verwandeln, aus dem sie heraus- und wieder hineinhüpfen.
Fürs Publikum bleibt nach so viel Bewegung nur noch eins. Sich an einen der abwechslungsreichen Essensstände stärken und es sich gemütlich machen, bis die „Flying Urbania“ -Show von vorne beginnt.