Dinslaken. Karin Mailänder ist die älteste Dinslakener „Oma gegen Rechts“. Trotz ihres Alters geht sie zur Demo. Ein schockierendes Erlebnis treibt sie an.

Karin Mailänder ist 84 Jahre alt. Sie ist noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geboren, im Juni 1939. Am heutigen Samstag zieht sie die Weste mit der Aufschrift „Omas gegen Rechts“ an, steckt den gleichlautenden Button an die Mütze und packt den Rollator ein. Karin Mailänder nimmt an der Dinslakener „Demo gegen den Rechtsruck“ teil. Sie ist die älteste der Dinslakener „Omas gegen Rechts“. Und sie sagt: „Ich möchte nicht, dass unsere Nachkommen mal fragen: Warum habt ihr nichts getan?“

„Wehrt Euch, leistet Widerstand gegen den Faschismus hier im Land“ – das, so kündigt die zierliche Dame entschlossen an, „werden wir schmettern.“ Und ein Plakat werde sie in die Luft strecken: mit einem AfD-Pestvogel darauf und der Inschrift „Deutschlands Zukunft“ – gestaltet vom Dinslakener Künstler Reiner Langer. „Nie“ hätte sie gedacht, dass in Deutschland noch einmal über Deportationen gesprochen werde: „Nie wieder, hieß es immer“, erinnert Karin Mailänder.

Wie sie als Kind den Krieg erlebt hat

„Ich habe die letzten Kriegsjahre noch miterlebt“, sagt sie. Jeden Abend sei sie mit ihrer Mutter und ihren Tanten in den Keller gegangen zum Schlafen: „Wir hatten uns da eingerichtet. Meinen Vater habe ich gar nicht kennengelernt, der ist mit 24 Jahren im Krieg gefallen, in Stalingrad.“ Sie kann sich noch an den Tag erinnern, „als die Todesnachricht kam. Und in der gleichen Woche kam die Nachricht, dass auch mein Onkel gefallen war“. Damals sei das normal gewesen: „Da waren so viele Väter tot.“

Zwei Begebenheiten aus der Kriegszeit haben sich ihr ins Gedächtnis gebrannt: Einmal wurden Strafgefangene durchs Dorf getrieben. Karin Mailänder war im Garten, schaute durch den Zaun. „Da bückte sich einer der Strafgefangenen und warf mir einen bunten Knicker zu, aus Glas. Und da ist der Aufseher gekommen und hat so auf den Mann eingeschlagen. Das geht mir nicht mehr aus dem Kopf, es ist fürchterlich.“

Karin Mailänder hat die Kriegsjahre in Klein-Oschersleben im Osten erlebt. Selbstgezeichnete Bilder an ihrer Wohnzimmerwand erinnern an das Dorf. Dort habe es eine Gruppe Frauen aus Polen gegeben. „Die hatten sie einfach alle aus Polen mitgenommen, sie mussten bei dem Bauern auf dem Acker arbeiten.“ Eine der Frauen sei hochschwanger gewesen. „Sie hatte nichts mehr zum Anziehen. Meine Tante hat ihr Anziehsachen gegeben, ihr aber gesagt, sie soll keinem sagen, von wem sie die Sachen hat.“ Die Frau wurde verhört – und „der Polizist, der sie verhört hat, hat sie geschlagen – eine hochschwangere Frau.“

Nach dem Krieg hat niemand mehr darüber geredet

Nach dem Krieg wurde das Kopfsteinpflaster der Dorfstraße asphaltiert und die Erinnerung unter den Teppich gekehrt. Über das, was geschehen war, „wurde so gut wie gar nicht gesprochen“, erinnert sich die 84-Jährige. Dabei ist sie sicher: „Als die damals die Nachbarn abgeholt haben, das müssen die Leute doch bemerkt haben.“

„Das brauchen wir nicht nochmal“

Und heute? Heute würden viele Bürger so tun, „als wäre gar nichts gewesen“, als hätten Massenmord und Deportationen nicht stattgefunden. „Was die Menschheit doch beeinflussbar ist“, wundert sich Karin Mailänder. Als sie jüngst bei ihrer Wassergymnastik gefragt habe, wer denn mit zur Demo komme, da habe eine der Frauen „abgewinkt: Wir sollen doch froh sein, dass es die AfD gibt, da würde die Regierung endlich mal wachgerüttelt“. Das habe die Frau gesagt. Solche Worte entsetzen Karin Mailänder und machen sie traurig. „Das brauchen wir nicht nochmal“, findet sie. Bei einem anderen Treffen in der Nachbarschaft habe man ihr erklärt, sie sei doch schon so alt, sie solle sich ins Café setzen, statt zu demonstrieren. Ausgerechnet sie, die damals schon die Ostermärsche mitgemacht hat, mit der Gitarre und Plakaten wie „Schwerter zu Pflugscharen“! Als Karin Mailänder dann noch Verständnis für die Klimakleber geäußert habe, „da sind alle über mich hergefallen“, erzählt sie und lacht.

„Ich finde es wichtig, dass die Menschen wachgerüttelt werden“

Sie holt einen Stapel Argumentationskarten zum Thema Flucht und Asyl und legt ihn bereit, zum Mitnehmen für die Demo. Man weiß ja nie. „Ich finde es wichtig, dass die Menschen wachgerüttelt werden, und ich finde gut, dass jetzt so viele auf die Straße gehen“, sagt die Seniorin und hofft, dass die „Zweifler, die sich noch nicht so sicher waren, wachgerüttelt werden und sehen, was sie da wählen wollen“.

Von den jungen Menschen wünscht sie sich, dass sie „auf die Barrikaden gehen. Sie sollen sich wehren, nicht mitschwimmen und das Richtige wählen“. Und sie sollen „mal die Omas fragen, wie das im Krieg war“. Sie gehöre zur letzten Generation, die darüber noch erzählen kann.