Kreis Wesel. Fremde im Haus, die peinliche Fragen stellen: Viele Senioren fühlen sich vom Besuch des Medizinischen Dienstes gestresst. Das hat Folgen.

Eine Situation, die meist überfordert: alt, allein, pflegebedürftig – und der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) hat seinen Besuch angekündigt. Er beurteilt, in welche Pflegegruppe jemand eingestuft wird. Was sagt man denn, wenn „das Amt“ ins Haus kommt und Fremde mitunter als beschämend empfundene Fragen stellen? Die Leistungen der Pflegekasse hängen von diesem Gespräch ab. Die Aktiven des Sozialdienstes VdK und der Caritas, häufig mit der Hilflosigkeit der Senioren konfrontiert, haben jetzt eine Idee umgesetzt. Ehrenamtliche „Lotsen“, Mitglieder des VdK, sind auf Wunsch beim MDK-Besuch dabei. Sie leisten nicht nur moralische Unterstützung.

Immer mehr Menschen im Kreis Wesel werden pflegebedürftig – nicht zuletzt, weil in der Region überdurchschnittlich viele Ältere und Hochbetagte leben. Der Bedarf an Unterstützung wird absehbar steigen. Am Mittwoch haben sich die ersten Ehrenamtlichen zu einer kurzen Schulung beim Caritasverband für die Dekanate Dinslaken und Wesel in Friedrichsfeld eingefunden. Horst Vöge, Vorsitzender des Sozialverbands VdK NRW, und Caritasdirektor Michael van Meerbeck stellten jetzt das Projekt vor. Und auch die Situation, die solche Initiativen nötig macht.

Vorbeugen, damit Senioren nicht den Rechtsweg gehen müssen

„Viele Ältere wollen nichts annehmen und nicht krank wirken“, sagt Vöge. Sie sprechen nicht gern über ihre Probleme. „Wenn eine junge Frau einen alten Mann fragt, ob er inkontinent ist, wird er dann ‘Ja’ sagen?“, verdeutlicht Svenja Weuster, Geschäftsführerin des VdK-Kreisverbands Niederrhein, das Problem. Wohl nicht, und seine Antwort steht dann in den Akten. Der VdK vertritt seine Mitglieder in Rechtsdingen, der Bedarf im Bereich Pflege steigt. Wird ein Antrag abgelehnt – vielleicht, weil der Besuch nicht optimal verlaufen ist – bleibt der Weg von Widerspruch und Klage. „Seit 2019 gibt es mehr Beratungen im Kreis Wesel, mehr Widersprüche und Klagen“, so Weuster. Allein 180 neue Akten habe sie bereits jetzt im Jahr 2022 angelegt, 2019 waren es im gesamten Jahr weniger als 100.

Erika Heckmann, stellv. VdK-Kreisverbandsvorsitzende, Caritasdirektor Michael van Meerbeck, Svenja Weuster, Geschäftsführerin VdK-Kreisverband Niederrhein, Horst Vöge, VdK-Vorsitzender NRW, und Jessica Tepass, Caritas (v.l.n.r.).
Erika Heckmann, stellv. VdK-Kreisverbandsvorsitzende, Caritasdirektor Michael van Meerbeck, Svenja Weuster, Geschäftsführerin VdK-Kreisverband Niederrhein, Horst Vöge, VdK-Vorsitzender NRW, und Jessica Tepass, Caritas (v.l.n.r.). © FUNKE Foto Services | Markus Joosten

Ehrenamtliche können das Gespräch begleiten und die Pflegebedürftigen behutsam darin unterstützen, ihre Probleme auch zu benennen. Im Ergebnis, so die Hoffnung, kommen mehr korrekte Einstufungen, und weniger Widersprüche und Termine beim Sozialgericht heraus – neben den zunächst ausbleibenden Mitteln der Pflegekasse bedeutet der Rechtsweg meist Stress und Aufregung für die Betroffenen.

Bewährt sich das Projekt, wird es ausgeweitet

„Es ist erstmal ein Modellversuch“, sagt Horst Vöge. Bewährt sich das Projekt, werde es später, in etwa einem Jahr, auch im Kreis Kleve und in Duisburg starten. „Wir müssen die Erfahrungen auswerten, herausfinden, ob Nachschulungen nötig sind oder etwa Informationen fehlen.“

Jessica Tepass, Leiterin der beratenden Dienste im Fachbereich Pflege der Caritas, hat mit ihrem Team die Inhalte der zunächst dreistündigen Schulung erarbeitet. Sie rät Pflegebedürftigen und ihren Angehörigen dazu, sich beraten zu lassen. Viele Betroffene und Angehörige holten den Medizinischen Dienst viel zu spät ins Boot, versuchen alles selbst zu stemmen. „Angehörige wissen oft nicht, dass sie bereits pflegende Angehörige sind, Betroffene nicht, dass ihnen Leistungen zustehen“, erläutert sie. Weil Pflegebedürftigkeit meist nur in körperlichen Beeinträchtigungen gedacht werde.

Wie groß das Thema ist, benennt Horst Vöge in Zahlen: 31.485 pflegebedürftige Menschen gibt es aktuell im Kreis Wesel. „Ich rechne damit, dass es im Dezember mindestens 35.000 sein werden.“ 82 Prozent von ihnen werden zuhause versorgt, davon mehr als die Hälfte von ihren Angehörigen.