Voerde. Während eines Sturms begräbt eine Eiche die Voerderin unter sich. Sie wird lebensgefährlich verletzt. Wie sich sich ins Leben zurückgekämpft hat.

Vor wenigen Wochen hat Samina ihren zweiten zweiten Geburtstag gefeiert. Im Kreise ihrer Liebsten hat die 19-Jährige gesessen, es wurde gemeinsam gegessen und einfach gequatscht und viel gelacht. „Darüber, wie froh wir alle sind, dass wir hier überhaupt so zusammensitzen können“, sagt Samina. „Es war sehr emotional. Fast noch schöner als der eigentliche Geburtstag“, ergänzt ihre Mutter Sandra Grote. „Es ist einfach eine Art Erinnerung an diesen Tag für uns.“

Erinnern an diesen Tag kann sich Samina dabei aber nur noch bruchstückhaft. Es war der Vormittag des 18. Oktober 2019. Die zu dem Zeitpunkt noch 16-Jährige ist auf ihrem damaligen Reiterhof an der Grünstraße in Voerde. Sie soll die Pferde von der Weide und in den Stall holen. In diesem Moment aber frischt der Wind auf: Eine starke Windböe entwurzelt eine alte Eiche. Der tonnenschwere Baum fällt und begräbt Samina unter sich.

Was danach passiert, nimmt die Schülerin nur noch verschwommen wahr, wie durch einen Schleier. Vielleicht hat sie es auch im Nachhinein erst erzählt bekommen, so genau kann sie das jetzt nicht mehr sagen. Irgendwann, Samina kommt es vor wie Stunden später, treffen die Rettungskräfte ein, befreien die lebensgefährlich verletzte Voerderin. Mit dem Rettungshubschrauber wird sie zum BG Klinikum in Duisburg gebracht.

Wirbel zertrümmert, mehrere Brüche, Rollstuhl - Samina gab auf

Dort liegt Samina insgesamt sechseinhalb Wochen. Sandra Grote und ihr Partner fast auch – so häufig und so lange sind sie täglich vor Ort. Die Mutter gibt schließlich sogar ihren Job auf, um uneingeschränkt für ihre Tochter da sein zu können. „Ich musste funktionieren und ich habe funktioniert“, sagt sie heute. Samina muss sich unzähligen Operationen unterziehen: Ein Wirbel ihrer Wirbelsäule ist zertrümmert, andere haben Berstungsfrakturen. Auch Fuß, Arm und mehrere Rippen sind gebrochen.

Es ist nicht klar, ob die damals 16-Jährige jemals wieder wird laufen können. Sie bekommt einen Rollstuhl. Und sie verliert – zumindest für den Moment – ihre Hoffnung und ihren Kampfgeist. „Du hattest dich wirklich aufgegeben“, sagt Sandra Grote zu ihrer Tochter. Die 45-Jährige kämpft auch zwei Jahre später noch mit den Tränen, wenn sie an diese Tage im Krankenhaus zurückdenkt. „Wir haben so vieles versucht, wir sind mit dir auf den Flur oder nach draußen gefahren. Doch du warst hoffnungslos. Du hattest dich aufgegeben.“ „Das stimmt“, sagt Samina. „Ich bin ganz ehrlich: Den Rollstuhl fand ich ganz, ganz schlimm. Und sonst habe ich nur im Bett gelegen und durfte beziehungsweise konnte nicht aufstehen. Innerlich habe ich randaliert. Ich wollte einfach nur raus aus dem Krankenhaus.“

„Ich möchte sie putzen. Und dafür muss ich aufstehen und wieder gehen können“

Und das darf sie Ende November schließlich auch. Dass sie ihre Physiotherapie fortsetzt, Ergotherapie macht und regelmäßig Lymphdrainagen bekommt, sind einige der Voraussetzungen dafür. Genauso wie ein Pflegebett. „Es war der Wahnsinn, wie meine Mutter das geregelt hat“, sagt Samina heute. Normalerweise dauere es Wochen oder Monate, ehe so ein Bett da sei und zu Hause stehe. „Aber wir hatten das direkt am nächsten Tag.“

Zurück zu Hause in Möllen verbringt Samina schnell wieder Zeit auf der Weide bei den Pferden. Im Rollstuhl sitzend, gerne auch mal vier bis fünf Stunden am Tag. Ein junges Fohlen hatte ihr Interesse schon vor dem Unfall geweckt: die Hannoveraner-Stute Estelle. „Eigentlich konnte ich mit Fohlen nie etwas anfangen. Doch hier war das anders. Sie war das erste Fohlen, wo ich gesagt hab: Das würde ich nehmen“, sagt Samina. Estelle ist es schließlich auch, die bei ihr einen Schalter umlegen und ihr wieder Zuversicht geben kann. Irgendwann sitzt Samina auf der Weide und verspürt einen dringlichen Wunsch. Sie denkt: „Ich will sie putzen. Ich will ihr nicht nur beim Fressen zugucken. Ich möchte sie putzen. Und dafür muss ich aufstehen und wieder gehen können.“

Samina Grote mit ihrer Mutter Sandra.
Samina Grote mit ihrer Mutter Sandra. © FUNKE Foto Services | Lars Fröhlich

Wir haben gesehen, wie Samina wieder auflebt. Wie Estelle ihr Mut gibt. Was für eine innige Beziehung die beiden haben. Und sie hat gesagt: Ein Fohlen ist für mich jetzt im Moment die beste Option. Ich kann es maßstabsgetreu auf mich anpassen“, erinnert sich auch Saminas Mutter Sandra Grote.

Die Familie schafft es schließlich, das Geld für das Fohlen zusammenzubekommen. Es wird Saminas Weihnachtsgeschenk, wartet an Weihnachten im Stall am Wohnhaus als Überraschung auf sie. „Es war das Beste, was wir machen konnten“, sagt Sandra Grote. An Silvester schafft Samina ihre ersten Schritte: Auf Krücken geht sie in Richtung Stall. Im Februar oder März 2020 schließlich auch das erste Mal ganz ohne Krücken.

Großer Rückhalt - aber auch traurige Situationen

Es ist schön, dass man durch so einen Schicksalsschlag so viele Menschen dazugewonnen hat, die man vorher teilweise nicht mal kannte“, sagt Sandra Grote. Sie und Samina erinnern sich an viele positiven Situationen. Zum Beispiel mit einer damaligen Bekannten, die längst zur Freundin der Familie geworden ist und die kurz nach dem Unfall eine Spendenaktion für die Schülerin ins Leben ruft.

Oder aber mit Saminas bester Freundin Mona, „die wirklich alles gemacht hat und immer da war“. Oder aber auch an den „mega Rückhalt“ vonseiten der Gesamtschule Hünxe, die Samina nach wie vor besucht. „Die haben sich von sich aus bei uns gemeldet und uns Unterstützung zugesichert. Schon zu einer Zeit, als ich selbst noch nicht wusste, wie mir überhaupt geschieht“, sagt Sandra Grote dankbar. Einzelne Lehrkräfte seien schließlich, als der Antrag auf Hausbeschulung genehmigt wurde, vorbeigekommen und hätten Samina hier unterrichtet. Und auch heute noch, sagt die 19-Jährige, könne sie bei Problemen auf ihre Lehrkräfte zugehen und werde unterstützt.

Doch natürlich habe es auch umgekehrte Fälle gegeben: Von Menschen, die einem zuvor nahestanden und die einen enttäuscht oder im Stich gelassen haben. Von Freundinnen und Freunden, die selbst nicht mit der Situation umgehen konnten und deshalb Abstand nahmen. Von Mitschülerinnen und Mitschülern, die lästerten. Oder die auf irgendeine Art und Weise neidisch waren. Zum Beispiel darauf, dass Samina ihrer Beeinträchtigungen wegen nunmehr einen Nachteilsausgleich erhalten hat und bis zu 20 Minuten länger als die anderen an ihrer Klausur schreiben darf. „Das können viele nicht nachvollziehen und finden das unfair“, sagt Samina. „Viele blenden aus, dass ich nach wie vor mit den Folgen des Unfalls zu tun habe.“

Ein anderer Blick auf viele Dinge

Auch Samina tut das gerne mal. Sie will stark sein. Und sie will sich auch stark zeigen. „Was ich aus dem Unfall gelernt habe, ist, dass nichts unmöglich ist. Dass man an sich selbst glauben muss. Selbst wenn die Ärzte es nicht mehr tun“, sagt sie. „Generell habe ich, so denke ich, einfach einen anderen Blick auf viele Dinge bekommen. Und ich bin reifer geworden.“

Doch natürlich gibt es da auch die Momente, in denen sie weinend auf dem Sofa sitzt oder im Bett liegt. Zum Beispiel an Tagen, an denen die Schmerzen – gerade im rechten Arm, aber auch im Rücken, im rechten Knie oder Fuß – mal wieder stärker sind. „Dann ist das kaum auszuhalten“, gibt sie zu. Und natürlich könne auch sie nicht jederzeit optimistisch in die Zukunft schauen: „Ich weiß – auch wenn ich das nicht wahrhaben will – dass es auch wieder schlechter wird irgendwann. Und natürlich denke ich dann oft: Wäre dieser Scheiß-Unfall doch einfach nie passiert. Aber es gibt eben auch Tage, da vergesse ich, dass ich diesen Unfall hatte.“ Und an denen versuche sie sich hochzuziehen.

Estelle gibt Samina nach wie vor unglaublich viel. Wenn sie alt genug ist, will die 19-Jährige die zweijährige Hannoveraner-Stute einreiten. Und sie wünscht sich, später mit ihr an Para-Dressur-Wettbewerben teilzunehmen, vielleicht ja sogar bei den Paralympics. Auch für ihre berufliche Zukunft hat Samina schon neue Pläne geschmiedet: Ihr eigentlicher Wunsch, zur Reiterstaffel bei der Polizei zu gehen, funktioniert zwar nicht mehr. „Aber ich könnte mir weiterhin vorstellen, zur Polizei zu gehen und dort zum Beispiel als Regierungsinspektorin zu arbeiten. Ich werde das versuchen: Was hab ich denn zu verlieren?“