Mönchengladbach. Das Fußballjahr 1971 war für Borussia Mönchengladbach aufreibend. Neben dem Pfostenbruch und einem Meistertitel gab es das Büchsenwurf-Spiel.
Heutzutage entgeht den Kameras der Fernsehsender bei einem Spiel in den besten drei deutschen Fußball-Ligen in der Regel nichts mehr. Der Gladbacher Büchsenwurf vom 20. Oktober 1971 wäre sicher aus diversen Perspektiven im Internet ein Renner. Doch vor 49 Jahren war die Symbiose zwischen Fußball und Fernsehen eher dünner Natur. Man kann mit fast einem halben Jahrhundert Abstand trefflich darüber spekulieren, ob sich der Büchsenwurf vom Bökelberg jenen Mythos verschafft hätte, wäre der damalige Borussia-Geschäftsführer Helmut Grashoff auf das ARD-Angebot einer Live-Übertragung eingegangen. Wegen der übersichtlichen Differenzsumme von 6600 Mark bei den Verhandlungen ließ Grashoff die Übertragung des Achtelfinal-Hinspiel im europäischen Landesmeister-Cup – heute Champions League – gegen Inter Mailand nicht zu.
Das strahlende, das sensationelle 7:1 (5:1) der Fohlen gab es spät am Abend in einer nur wenige Minuten kurzen Zusammenfassung. Mangels mehrerer Kameras gibt es deshalb vom Tatbestand des Abends, dem Büchsenwurf aus dem Publikum gegen die Schulter des italienischen Nationalspielers Roberto Boninsegna, keine Beweisbilder.
Die Spielaufzeichnung zeigt lediglich, wie der getroffene Boninsegna auf dem Bökelberg-Rasen liegt und sich zügig eine Menschentraube um den Nationalspieler und WM-Teilnehmer von 1970 bildet. Büchsenwurf war im Jahr 1971 der zweite Vorfall auf dem Bökelberg ein halbes Jahr nach dem Pfostenbruch im Bundesliga-Heimspiel gegen Werder Bremen, das später ebenfalls annulliert und mit 0:2 gegen die Borussia gewertet worden war.
Als 19-Jähriger auf dem Rasen
„Wieso ist eigentlich nie jemand auf die Idee gekommen, dem Boninsegna für diese Aktion den Oscar zu verleihen?“, fragt sich bis heute Borussias Welt- und Europameister Rainer Bonhof. Der aktuelle Gladbacher Vizepräsident war als 19-Jähriger mit auf dem Platz, als die Büchse flog. „Die Dose war leer, wie hinterher ja auch Schiedsrichter Jef Dorpmans versichert hat. Der Boninsegna kann also gar nicht so benommen gewesen sein, wie er tat“, sagt Bonhof, „in der Verhandlung bei der Uefa hatten wir dazu aber leider keine Beweisbilder.“
Mit einer Annullierung der Gladbacher Gala gegen Inter, das mit Nationalspielern wie Tarcisio Burgnich, Sandro Mazzola oder Giacinto Facchetti angetreten die Fohlen offenbar schwer unterschätzt hatte, hatte in der Borussia-Kabine niemand gerechnet. „Das war nach einer Weltklasseleistung von uns wirklich bitter“, erinnert sich Rainer Bonhof. „Die Tore waren alle sehenswert. Unser Neuzugang Christian Kulik von Alemannia Aachen hat dem Facchetti Bindfäden durch die Beine gezogen, dass es eine Freude war.“
Wenige Tage vor dem Rückspiel in Mailand war dann klar: Das 7:1, die tollen Kombinationen, Günter Netzers Freistoß in den linken Torwinkel – dies alles war nichts mehr wert. Die Disziplinarkommission der Uefa annullierte die Partie und verhängte 10.000 Schweizer Franken Geldstrafe. „Das Spiel wurde sogar aus den Büchern der Uefa entfernt. So, als hätte es unser 7:1 nie gegeben. Das ist schon ziemlich unverfroren“, sagt Bonhof und kann sich auch 49 Jahre nach dem Drama noch drüber aufregen.
Nicht minder aufreibend waren die beiden Folgespiele. Beim 2:4 in Mailand am 3. November 1971 ging es weitaus gefährlicher zu als am Bökelberg. „Da sind wir, als wir im Mannschaftsbus saßen, beschossen worden. Eine Kugel ist durch die Busscheibe durch“, erinnert sich Bonhof, „alle haben sich auf den Boden geworfen.“
Sportlich war der Gladbacher Auftritt trotz des Vorfalls gut. Wäre da nicht „ein blödes Ding in der letzten Spielminute“, so Bonhof, gewesen. Inters Gian Piero Ghio konterte den zweiten Gladbacher Treffer durch den Schalker Neuzugang Jürgen Wittkamp im Gegenzug mit dem 4:2-Endstand.
Sieloff verschießt Foulelfmeter
Das erschwerte die Hinspiel-Wiederholung am 1. Dezember. Die Gladbacher mussten für die erste von drei Heimspielsperren auf Uefa-Ebene ins Berliner Olympiastadion ausweichen. In der Saison darauf gab es zwei „Heimspiele“ im Uefa-Cup in Nürnberg.
Vor fast 85.000 Zuschauern in Berlin packten die Blau-Schwarzen den gefürchteten Catenaccio aus. Übersetzt: Türriegel. Inter stand mit zehn Spielern tief in der eigenen Hälfte, lief alle Spielräume zu und verteidigte eisern. Dazu verschoss Klaus-Dieter Sieloff bereits in der 18. Minute einen Foulelfmeter.
Der Tiefpunkt eines aus Borussia-Sicht trüben Abends war eine hässliche Szene in der vorletzten Spielminute. „Da hat Boninsegna mit 20 Metern Anlauf unserem Luggi Müller das Schien- und Wadenbein gebrochen. Luggi hat lange gebraucht, um wieder zurückzukommen.“ Neun Monate, um genau zu sein.
Müllers Karriere setzte sich bei Hertha BSC fort. Die Fohlen allerdings rappelten sich wieder auf. Vier Jahre nach dem Büchsenwurf-Spiel holte Gladbach mit einem glanzvollen 5:1 im Rückspiel beim FC Twente Enschede den Uefa-Pokal. „Dieser großartige Auftritt“, sagt Bonhof heute, „steht in meiner Rangliste unserer besten Spiele noch vor dem 7:1 gegen Inter.“
Übrigens: Die Cola-Büchse hatte Referee Jef Dorpmans mit nach Holland genommen. Dort stand sie bis 2011 im Museum von Vitesse Arnheim. Seit Juni 2012 ist das Corpus Delicti im Borussia-Besitz – und zu bewundern im Gladbacher Vereinsmuseum „Fohlenwelt“. Der Werfer der Büchse wurde indes nie ermittelt.
Gladbach gegen Inter in Namen und Zahlen
20.10.71: Gladbach - Inter 7:1 (5:1)
Gladbach: Kleff; Vogts, Müller, Sieloff, Bleidick, Bonhof, Kulik, Netzer (83. Wittkamp), Wimmer, Heynckes, Le Fèvre.
Tore: 1:0 Heynckes (7.), 1:1 Boninsegna (18.), 2:1 Le Fèvre (21.), 3:1 Le Fèvre (34.), 4:1 Netzer (42.), 5:1 Heynckes (44.), 6:1 Netzer (52.), 7:1 Sieloff (83./Handelfmeter).
Schiedsrichter: Dorpmans (Niederlande).
Zuschauer: 27.500.
3.11.71: Inter - Gladbach 4:2 (2:1)
Gladbach: Kleff; Bonhof, Sieloff, Müller, Bleidick (22. Wittkamp), Wimmer, Vogts, Netzer, Kulik, Heynckes, Le Fèvre.
Tore: 1:0 Bellugi (10.), 2:0 Boninsegna (13.), 2:1 Le Fèvre (38.), 3:1 Jair (57.), 3:2 Wittkamp (89.), 4:2 Ghio (90.).
Schiedsrichter: Scheurer (Schweiz).
Zuschauer: 54.413.
1.12.71: Gladbach - Inter 0:0
Gladbach: Kleff; Vogts, Müller (89. Wloka), Sieloff, Bonhof, Danner (46. Wittkamp), Wimmer, Netzer, Kulik, Heynckes, Le Fèvre.
Tore: Fehlanzeige.
Schiedsrichter: Taylor (England).
Zuschauer: 84.561 (in Berlin).
Besonderes Vorkommnis: Sieloff verschießt Foulelfmeter (18. Min.).