Essen. Er hat es geschafft. Tim Vößing holt sich den Titel im Essener Colosseum. Dann schnappt er sich das Mikro und beweist sportliche wie menschliche Größe.

Lässig lehnten Tim Vößing und Mike Perez etwas abseits des Trubels an der Bar, nahmen einen Drink und pafften eine dicke Zigarre aus der Heimat des kubanischen Weltklasseboxers. Die beiden plauderten gegen die hämmernden Beats von Promi-DJ Guilia Siegel an, die die Gäste im Essener Colosseum zur After-Show-Party animierte, und sie ließen Erinnerungen aufleben. Es war so gegen Mitternacht, und für den Essener hatte das neue Leben bereits begonnen.

Tim Vößing ist Europameister und macht Schluss. Das überraschte die meisten der rund 600 Besucher dieser Box-Gala und stimmte die Freunde des gepflegten Faustkampfes auch ein bisschen wehmütig.

Mike Perez war am Samstag eigens zum Profi-Fight um den WBA-Titel im Cruisergewicht nach Essen gekommen, um Vößing gegen den erfahrenen Erdogan Kadrija (38) zu sekundieren. In zahlreichen Sparrings haben sich die zwei schätzen gelernt, ja sogar angefreundet, obwohl der gnadenlose Perez seinem jungen unerfahrenen Widersacher sogar mal das Nasenbein zertrümmert hatte.

Nun stand er im weißen „Team-Vößing“-Shirt am Ring an der Seite von Trainer Sebastian Tlatlik und beobachtete unaufgeregt, wie sein Spezi von der ersten Runde an kontrolliert, gradlinig und mit feiner Klinge dem Titelgewinn entgegensteuerte.

Essener Boxer Tim Vößing bekommt ganz viel Lob vom unterlegenen Erdogan Kadrija

Der Hauptkampf des Abends bot keine wilde Keilerei, überraschend, dass „Big Edi“ zum Ende der sechsten Runde mit Schmerz verzerrtem Gesicht abknickte und angezählt wurde. Der Gong rettete ihn vor dem K.o..  Doch wenig später kam das Signal aus der blauen Ecke: Schluss, es geht nicht mehr. Vössing jubelte, riss die Arme in die Luft, stieg auf die Ringseile und ließ sich feiern. Er hatte auch seinen 15. Profi-Kampf gewonnen – die Bilanz bleibt blitzsauber.

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„Er ist ein echt starker Junge, hat einen starken Punch, ich habe einen Schlag auf die Leber bekommen und dann hat auch meine Schulter nicht mehr mitgespielt“, klärte Kadrija auf. „Ich hätte unfassbar gerne weitergeboxt. Es war ein geiler Kampf auf Augenhöhe. Respekt, auf dem weiterem Weg alles Gute, er ist ein guter Junge.“

Die Box-Karriere von Tim Vößing begann einst im Flughafen-Hangar Essen/Mülheim

Dann redete der Sieger, der weit ausholte und auf seine erfolgreichen Jahre zurückblickte: „Was war das für eine Reise…“. Anfangs habe er nur ein bisschen abnehmen wollen und war beim Boxen hängen geblieben. Es wurde eine Erfolgsgeschichte: Junioren-Weltmeister, Internationaler Deutscher Meister und jetzt als Höhepunkt Europameister.

Boxen in Essen
15. Profikampf, 15. Sieg. Tim Vößings Weste ist blütenweiß. © FUNKE Foto Services | Michael Gohl

Vößing dankte allen Begleitern, Unterstützern, seinem Team, aber vor allem seinem Vater, der einst den entscheidenden Impuls gegeben und den ersten Amateur-Kampf seines Sohnes im Flughafen-Hangar Essen/Mülheim organisiert hatte. „Ohne ihn und seine Unterstützung wäre das alles nicht möglich gewesen.“

Nun saß der Papa freudestrahlend im Publikum, stolz wie Oskar, und lauschte just an seinem 59. Geburtstag den Worten seines Sohnes. Eine perfekte Dramaturgie. In Essen hat alles angefangen, dort endet die bemerkenswerte Laufbahn.

Tim Vößing widmet sich nach seinem Kampf an das Essener Publikum

„Alles, was ich erreicht habe, ist viel mehr, als ich denken konnte. Und jetzt der EM-Titel, hier in meiner Heimat, mit meinen Freunden, mit Familie und Bekannten, das bedeutet mir unheimlich viel“, sprach der 26-jährige Champion, der die Gemeinschaft zu schätzen weiß: „Wir sind Europameister!“

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Und dann das Bekenntnis, das sich schon vor dem Kampf gegenüber dieser Zeitung vage angedeutet hatte. 90 Prozent Boxen und 90 Prozent Promotion (Elektrotechnik), das sei nichts für ihn. „Ich liebe den Sport, ich liebe aber auch meine Arbeit, aber die Perspektive, dort weiterzukommen, ist einfach größer. Boxen ist auch Hobby und vor allem ein Glücksspiel. Da weiß man nie, was kommt. Es geht nicht immer nur bergauf.“

„Wir waren am Scheideweg. Tim ist 50 bis 60 Stunden in der Woche an der Uni, egal wann du ihn anrufst, er ist immer dort und zwischendurch kommt er dann zum Training – das ist unglaublich. Ich weiß gar nicht, wann er schläft. “

Sebastian Tlatlik, Trainer von Tim Vößing

Schließlich weise Worte eines reflektierten Geistes: „Was ist das Schwerste am Boxsport: geschlagen zu werden, zu kämpfen? Nein. Es ist, den richtigen Punkt zu finden aufzuhören, dann, wenn es am schönsten ist. Und schöner kann ich mir es nicht vorstellen. Vielen Dank an alle, Glückauf.“ 

Sein Team war selbstverständlich längst eingeweiht. „Wir haben lange überlegt“, gibt Trainer Sebastian Tlatlik zu. „Wir waren am Scheideweg. Tim ist 50 bis 60 Stunden in der Woche an der Uni, egal wann du ihn anrufst, er ist immer dort und zwischendurch kommt er dann zum Training – das ist unglaublich. Ich weiß gar nicht, wann er schläft. So geht das aber nicht weiter, denn was nun gekommen wäre, ist absoluter Hochleistungssport.“ Traurig? „Voll traurig“, gesteht Tlatlik, der Trainer. „Aber ich freue mich für ihn“, sagt er als Freund. „Er geht den richtigen Weg. Ich hätte mich an seiner Stelle auch so entschieden.“

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