Gelsenkirchen. Am Freitagabend spielt Leo Scienza mit dem 1. FC Heidenheim in Dortmund. Seine Fußball-Biographie ist untrennbar mit Schalke verbunden.
Die Geschichte von Leo Scienza beginnt in Fanna, Schweden, einem Ortsteil von Enköping, 77 Kilometer nordwestlich von Stockholm. Gerade 21 Jahre alt war der Brasilianer, hatte in seiner Heimat und in Uruguay gespielt, mit dem gleichen Berufsziel wie Hunderttausende andere Jugendliche seines Landes: Profifußballer. Um eine Chance zu bekommen, am liebsten in Europa, nehmen viele die unmöglichsten Angebote an. Scienza erhielt ein solches Angebot im Herbst 2018. Er sollte ein Probetraining bei einem schwedischen Profiklub absolvieren. Der Beginn einer Auf-und-ab-Karriere mit Höhe- und Tiefpunkten, genutzten und verpassten Chancen. Eine Geschichte, die viel mit Schalke 04 zu tun hat und Scienza nun als Shootingstar des 1. FC Heidenheim am Freitagabend (20.30 Uhr/DAZN) nach Dortmund führt.
Denn in Schweden durfte er nicht etwa bei den großen Klubs in Stockholm, Göteborg oder Malmö vorspielen. Er landete in der Fünften Liga im 25.000-Einwohner-Städtchen Enköping, übernachtete auf einer Matratze im Keller des Hauses des Klubschefs, Gehalt: mickrig. „Alleine, keine Familie, keine Freunde, kein Geld, kein Bett, kein Zimmer“ - so fasste er in einem Interview einmal seine Lage zusammen. „Profifußball war weit entfernt. Es gab auch Momente, in denen ich darüber nachgedacht habe aufzugeben.“ In 22 Spielen in Schweden erzielte der Linksaußen, der auch im zentralen offensiven Mittelfeld eingesetzt werden kann, zwölf Tore, viele auf Video festgehalten.
Eins davon landete bei Manfred Dubski, genannt Manni, einst bissiger Defensivspezialist in der Bundesliga der 70er Jahre, inzwischen eine Scout-Legende der Knappenschmiede. Der war begeistert, lud Scienza ein. Im Corona-Sommer 2020 war das, Manager der Schalker U23 war seinerzeit Gerald Asamoah. Scienza spielte nicht nur im Training vor. Erst in der Halbzeit seines ersten Vorbereitungsspiels erhielt er das negative Ergebnis eines Coronatests, durfte dann für zehn Minuten mitmischen, bevor er verletzt wieder raus musste. Doch er hatte ein Tor in dieser Zeit erzielt. Die gesammelten Eindrücke brachten ihm einen U23-Vertrag bei den Königsblauen. „Leonardo war fast vier Wochen bei uns im Training dabei und hat uns in dieser Zeit absolut überzeugt. Wir hoffen, dass wir in seiner Zeit bei uns noch mehr aus seinem Potenzial herausholen können und er die Mannschaft weiterbringen wird“, sagte Asamoah bei der Verpflichtung.
Schalke-Trainer gaben Scienza keine Profi-Chance
Nach einem ordentlichen ersten Jahr auf Schalke (23 Spiele, 4 Tore) trug er im zweiten die Nummer 10 und wurde zur bestimmenden Figur des U23-Spiels. In 36 Partien gelangen dem 1,75 Meter kleinen Scienza elf Tore und zwölf Vorlagen. Es war für die Schalker Profis das Aufstiegsjahr 2021/2022, immer wieder wurden die Trainer Dimitrios Grammozis und Mike Büskens auch von dieser Zeitung nach Scienza gefragt. Eine Chance bei den Profis erhielt er aber nie - auch wenn er sich längst in den Verein Schalke 04, die Fans, die Mitarbeiter verliebt hatte. „Der FC Schalke 04 hat mein Leben verändert und war die Basis für alles, was danach kam. Ich bin deshalb auch ein Fan des Klubs geworden“, sagte Scienza. Nach seinem letzten Spiel schrieb er über die Sozialen Netzwerke Richtung S04-Fans: „Durch euch habe ich mich hier geliebt und unterstützt gefühlt.“
Und doch erhielt er keinen Vertrag. Schalkes Profis war der Wiederaufstieg gelungen, für die U23 war er mit fast 24 Jahren zu alt - und die Regionalliga zu gut. „Leo ist ein guter Junge, der ein großes Talent hat. Aber wir mussten einschätzen, ob wir ihm einen Kaderplatz zur Verfügung stellen und ob wir auf seiner Position für ihn so ein Potenzial sehen, dass er auf Schlagdistanz ist“, sagte der damalige Schalker Sportdirektor Rouven Schröder. Und nein, Bundesliga-Potenzial sahen die Schalker nicht. Scienza wechselte zum Zweitligisten 1. FC Magdeburg.
Und der Wechsel wurde ein Flop, es ging wieder bergab bis in die Fünfte Liga. Nur zwölfmal kam er in Pflichtspielen für die Magdeburger Profis zum Einsatz, blieb ohne Scorerpunkt. Nachdem er sogar suspendiert worden war, stürmte er gegen Saisonende für die U23 in der Verbandsliga Sachsen-Anhalt. In zehn Spielen erzielte er 13 Tore, fand den Fußball-Spaß wieder. Er hoffte auf eine Rückkehr zu den inzwischen wieder abgestiegenen Schalkern, den Kontakt hatte er nie verloren. Mehrfach wurde er S04 angeboten, doch André Hechelmann (Ex-Sportdirektor) und Peter Knäbel (Ex-Sportvorstand) lehnten ab, hielten ihn für nicht gut genug. Profi auf Schalke - auch beim zweiten Mal erfüllte sich die Hoffnung nicht.
Ex-Schalker Scienza: Bester Spieler der Dritten Liga 2023/2024
Scienza unterschrieb einen Vertrag beim Drittliga-Aufsteiger SSV Ulm 1846, der eigentlich nur die Klasse halten wollte. Doch die Ulmer spazierten durch die Liga, Scienza war mit zwölf Toren und 15 Vorlagen der Dirigent, wurde zum „Besten Spieler der 3. Liga“ gewählt. „Ich freue mich sehr über diese Wertschätzung“, sagte Scienza dazu und ergänzte über seine Ulmer Zeit: „Wir waren nicht nur Mitspieler, sondern auch Freunde.“ Nie habe er so etwas zuvor erlebt. Er schlief nicht mehr auf einer harten Matratze, sondern in einer Wohnung direkt am Ulmer Münster. Seine Stärken: guter Abschluss, gefährliche Standardsituationen, Eins-gegen-eins-Dribbling. Dass er für eine Ausstiegsklausel von 500.000 Euro zu haben war, sprach sich in der Branche schnell herum.
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Zum dritten Mal hätten auch die Schalker Scienza langfristig verpflichten können. Wie diese Zeitung erfuhr, hätte Scienza trotz etlicher Bundesliga-Anfragen über ein Schalker Angebot ernsthaft nachgedacht. Er wartete und wartete - doch es kam keins. Er war eben kein Spieler mehr, nach dem der neue Kaderplaner Ben Manga suchte. 25, fast 26 Jahre alt - etwas zu alt für Manga angesichts der geringen Erfahrung. Bisher hatte Scienza nur in der dritten, vierten und fünften Liga konstant überzeugt. Üppiger Wiederverkaufswert? Eher nicht vorhanden. Manga dachte nicht einmal ernsthaft über eine Scienza-Verpflichtung nach, die Chance verstrich erneut. Scienza entschied sich für Heidenheim. Und bei den Schalkern spielt nun Tobias Mohr auf der Linksaußen-Position, einer den S04 ursprünglich aussortieren wollte. Bedarf war vorhanden.
Scienza ist in Heidenheim Stammspieler, sogar im Europapokal. In vier der fünf Pflichtspiele spielte er von Beginn an, erzielte zwei Tore, legte eins vor. Gemeinsam mit FC-Bayern-Leihgabe Paul Wanner bildet er bisher ein geniales Mittelfeld-Duo. „Es fühlt sich wie ein Traum an“, sagte er nun. Fünf Jahre ist es her, dass er irgendwo in einem schwedischen Dorf auf einer harten Matratze schlafen musste. An diesem Freitag spielt er vor über 80.000 Zuschauern in Dortmund.
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