Paris. Turn-Superstar Simone Biles kann in Paris auf mehrere Olympia-Goldmedaillen hoffen. Den wichtigsten Triumph hat sie schon eingefahren.

Von den olympischen Turn-Dämonen befreit sich Simone Biles endgültig um kurz nach eins an diesem Sonntag in der Arena von Paris-Bercy. Noch einmal fliegt sie am Stufenbarren von der niedrigeren zur höheren Stange, geht in die vertikale Spannung, holt Schwung, landet Sekundenbruchteile nach einer paar Schrauben und Salti sicher. Ihre Füße berühren kaum den sicheren Boden, da huscht ein Lächeln über das Gesicht des 27 Jahre alten Superstars. Biles reißt die Arme hoch, Küsschen hier, Umarmung da, ein Tänzchen mit ihrer Teamkollegin Jordan Chiles. Wie Erlösung aussieht? Im Falle der US-Amerikanerin so wie am letzten der vier Geräte in der Qualifikation für die olympischen Finals.

Vier Augenringe für Olympia

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    Ein gutes Dutzend Kameras, die Simone Biles während ihres 80-minütigen ersten Auftritts auf Schritt und Tritt und aus nächster Nähe verfolgen, sendet damit sicher eines der schönsten Olympia-Bilder in die Welt. Das einer Sportlerin, die einen langen Leidensweg hinter sich hat, wie man ihn hinter dem Glanz von 37 überwiegend goldenen Medaillen bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen nicht erwarten würde. Das einer jungen Frau, die Missbrauch erlebt hat, depressive Phasen und Angststörungen hatte, bei der man sich fragt: Warum tut sich das eigentlich noch an?

    Simone Biles und ihre Trainerin Cecile Landi.
    Simone Biles und ihre Trainerin Cecile Landi. © dpa | Marijan Murat

    Der Grund für diese Frage liegt drei Jahre zurück: Simone Biles, die Unmögliches wie Routine aussehen lassen kann, scheiterte daran, den Mehrkampf in Tokio zu beenden. Kein gebrochener Knöchel, kein verstauchtes Knie, keine Krücken veranlassten sie zu dem Schritt, die Wettkampffläche zu verlassen, in Teamkleidung zurückzukehren und zuzuschauen, wie ihr Team ohne sie Gold an die Russinnen verloren. Es waren jene Dämonen, gegen die sie nicht mehr zu kämpfen vermochte. Diese „Twisties“, Blackouts, bei denen das Gehirn schneller Bilder zeichnet als die Realität, weshalb bei Sprüngen und Drehungen die Orientierung verlieren kann – was schlimmste Folgen bei der Landung haben kann. Biles verzichtete auf nahezu alle Finals, gewann statt viermal Gold wie 2016 in Rio nur einmal Bronze am Schwebebalken. Sie wurde im Internet wüst beschimpft, verschwand nach der Abreise aus Japan von der Bildfläche, weil sie sich mit ihren Gedanken und Gefühlen alleine fühlte. Das Ende einer großen Karriere?

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    Wenige Wochen vor den Spielen in Paris, bei denen sie erst einmal nicht vor Kameras oder Mikrofone treten wird, löst Simone Biles das Rätsel auf: „Weil ich das sichere Gefühl habe, dass mich nichts und niemand dazu zwingt. Ich wache morgens auf und entscheide mich, in die Halle zu fahren, um nur für mich selbst zu turnen.“

    Die Spiele von Paris dienen nicht weniger als der Wiedergeburt des US-Turnens. Es hat einen schmerzlichen Prozess der Selbstreinigung hinter sich, die sich an jener Epiode von Simone Biles aus dem Jahr 2021 und der von Kerri Strug 25 Jahre zuvor erklären lässt. Die damals 18-Jährige wusste bei den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta noch nicht, dass sie zwei Bänder gerissen hatte, als sie nach einer unglücklichen Landung signalisierte: Ich fühle meinen Fuß nicht mehr. Bei ihrem Trainer stieß dies auf taube Ohren, er schickte sie zurück in den Wett- und Klassenkampf: Die USA wollten Russlands Vorherrschaft im Mannschaftswettbewerb beenden. Strug sicherte mit schmerverzerrtem Gesicht und unter Tränen den Olympiasieg, wurde auf den Händen ihres Trainers zur Medaillenvergabe getragen und stieg zur kleinen, aber mächtigen US-Heldin auf, die die Titelblätter zierte.

    Kerri Strug turnte weiter, als sie hätte aufhören sollen. Simone Biles hörte auf, als sie wusste, dass sie nicht weitermachen konnte.

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    So funktionierte USA Gymnastics damals: Pailletten und Lächeln verdeckten einen Sport, der tief in Einschüchterung und Missbrauch verwurzelt war. Patriotismus und Stolz waren wichtiger als körperliche und mentale Gesundheit. Schließlich sind Sportstars Helden, die keine menschliche Schwäche zeigen sollen. Normale Menschen geben auf, sie halten durch.

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    Simone Biles wurde in Tokio keine Nationalheldin, dafür aber zum Sinnbild der mündigen Athletin. Als eine Sportlerin, die über sich und ihren Körper selbst entscheidet, die Schwächen nicht aus Scham verschweigt. Und das in einem Sport, in dem Athletinnen oftmals nur Anweisungen entgegenzunehmen, zu gehorchen und zu funktionieren haben. Ihre Aussage und die von mehr als 100 anderen Turnerinnen führten dazu, dass der berüchtigte Sportarzt Larry Nassar zu 175 Jahren Haft verurteilt wurde. Im Verband haben Verantwortliche ihre Jobs verloren, seit Tokio wurden Hunderte Trainerteams und Mitarbeitende im Bereich psychischer Gesundheit geschult. „In diesem Sport ist so viel passiert, das mir eine höllische Angst gemacht hat“, sagt Biles, die seit einem Jahr mit Football-Profi Jonathan Owens verheiratet ist, „da konnte ich nicht zulassen, dass er mir diese letzte Sache auch noch nimmt.“

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    Simone Biles hat viel mehr Kraft, als es ihre 1,42 Meter Körpergröße vermuten lassen. In der Arena von Bercy sitzen Hollywood-Star Tom Cruise, Sängerin Ariana Grande oder Vogue-Chefin Anna Wintour in der Arena, um sie zu bestaunen. Mit ihrem Team ist sie nun Favoritin auf den Olympiasieg, obwohl eine leichte Wadenverletzung wieder aufgebrochen ist. Durch Einzelgold im Mehrkampf, am Boden und am Schwebebalken kann sie zur Lichtgestalt von Paris werden. Dabei ist eigentlich ihre Rückkehr zu den Olympischen Spielen schon ihr größter Sieg.