Paris. Eine OP hätte Hockey-Ass Christopher Rühr den Start bei den Olympischen Spielen in Paris gekostet. Wie kann er nun auf Torejagd gehen?

„Nein! Nein! Nein!“ Leistungssportler können besonders gut in ihren Körper hören. Was der Hockeyspieler Christopher Rühr am 20. Januar aus Richtung seines linken Knies vernimmt, als er sich am Boden wälzt, lässt nichts Gutes erahnen. Olympisches Qualifikationsturnier im Oman, Spiel gegen Pakistan: Ballmitnahme in hohem Tempo, dann ein Ausweichen vor dem Gegner, ein Wegknicken des Knies. „Es hat direkt reingeschossen“, sagt der 30-Jährige. „Wenn etwas so krass sticht, ist irgendwas kaputt. Und beim Knie ist sowas häufig mit langen Ausfallzeiten verbunden. Mir war klar: Das war’s.“ Nein! Nein! Nein!

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    An diesem Samstag beginnt für die deutsche Nationalmannschaft in Paris gegen den Gastgeber das olympische Turnier. Mit Christopher Rühr. Wirklich, mit Kreuzbandriss. Denn im Oman hieß es im Frühjahr: Oh, Mann! Der Stürmer hatte sich das vordere Kreuzband gerissen. Gewöhnlich der K.o. für einen Leistungssportler sechs Monate vor dem nur allvierjährlichen Höhepunkt. Weil aber sonst nichts lädiert war, kann Rühr nun auf Torejagd gehen. „Damit konnte ich wahrlich nicht rechnen. Dass die ganze Familie und Freunde in Paris sind, ist schon sensationell.“

    Sein Torinstinkt und seine Energie sind wichtig für die deutsche Hockey-Nationalmannschaft: Christopher Rühr (rechts) spielt in Paris seine dritten Olympischen Spiele.
    Sein Torinstinkt und seine Energie sind wichtig für die deutsche Hockey-Nationalmannschaft: Christopher Rühr (rechts) spielt in Paris seine dritten Olympischen Spiele. © Getty Images | Naomi Baker

    Hockeyspieler kratzen sich am Schläger, alle anderen am Kopf, wie so ein Happy-end noch zustande kommen kann: 141 Tage nach dem Gau wieder das Glücksgefühl zu empfinden, über den Kunstrasen zu dribbeln, aufs Tor zu schießen. Die Erklärung: Christopher Rühr wurde nicht operiert, sondern konservativ behandelt. „Die Ärzte haben mir klargemacht: Das ist die einzige Chance, wie ich in Paris an den Start gehen kann.“ Eine Operation wie in den meisten Fällen, und der Weltmeister von 2023 könnte seine Jungs nun nicht beim Versuch unterstützen, nach 1972, 1992, 2008 und 2012 das fünfte Gold für Deutschland zu holen. Nicht mal nach dem Turnier ist so ein Eingriff Pflicht, sondern nur Option. „Etliche Menschen wissen gar nicht, dass ihr Kreuzband gerissen ist. Nach Olympischen Spiele wird ein großer Spannungsabfall einsetzen. Ich habe keinerlei Motivation dazu, mich dann unter das Messer zu begeben und wieder sechs Monate Reha zu machen.“

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    Zumal die Alternativbehandlung Rühr die Chance einräumt, im Yves-du-Manoir-Stadion zu Paris die Marke von 200 Länderspielen zu brechen, sollte Deutschland das Halbfinale erreichen. Mehreren Ärzten und Spezialisten zeigte er seine MRT-Aufnahmen – alleine nahm er das Risiko auf sich, es konservativ zu versuchen. In dem Moment war er viel mehr Sportler als angehender Mediziner: Rühr, Bronzemedaillengewinner von Rio 2016, wollte unbedingt zu seinen dritten Olympischen Spielen.

    Konservativ behandelt zu werden, heißt: die Muskulatur zu stärken, damit sie die Stabilisierungsfunktion des gerissenen Kreuzbandes übernimmt. Die ist zwar nicht so groß, wie man glaubt, aber Rührs Knie musste durch Abertausende Wiederholungen neu lernen, Reize weiterzuleiten und Muskeln anzusteuern. „Wenn ich eine bestimmte Bewegung mache, müssen die Muskeln wissen, wann sie sich in einer bestimmten Millisekunde anspannen.“ Sein Coach André Henning, der Rühr bereits seit Kindertagen bei Uhlenhorst Mülheim und später beim Club an der Alster sowie Rot-Weiss Köln begleitet, erkundigte sich bei Bundestrainerkollegen, wie Skifahrer und Eishockeyspieler mit dieser Verletzung umgehen. Die Ärzte entwarfen den richtigen Rehaplan, die Betreuung in der Physioabteilung von Bayer Leverkusens Fußballer-Meistern erwies sich als bestmögliche – und zu jeder Zeit war die Verlobte Nike Lorenz, selbst mit den Hockey-Damen in Paris, der Anker beim Schuften fürs Comeback.

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    Obwohl sich „jeder Tag wie ein Jahr“ anfühlte, kannte Rührs Arbeit keinerlei Rückschritte. „Ich habe nicht darauf geschielt, wann ich wieder fit sein muss, sondern nur geguckt: Was kann ich am nächsten Tag machen?“ Sprints, Richtungswechsel, abruptes Abstoppen – das Knie war mit allem schon wieder viel früher belastbar als erwartet. „Das erste Mal wieder den Hockeyschläger in der Hand zu halten, war dann richtig geil.“ Eine Carbon-Orthese verleiht nun in Paris die Sicherheit, dass das lädierte Knie nicht seitlich wegknicken oder überstreckt werden kann. Rühr gibt das ein gutes Gefühl: „Wenn ich bei meinem Spielstil nicht in jeden Zweikampf voll reingehen könnte, wäre ich nur ein halb so guter Spieler.“

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    Einen vollständig funktionsfähigen Christopher Rühr kann Bundestrainer André Henning nur zu gut gebrauchen in den anstehenden zwei Wochen. Nach dem Auftaktgegner noch Spanien, Südafrika, die Niederlande und Großbritannien sind echt ein knackiger Start bei der Mission Medaille. „Aber wenn ich mir die andere Gruppe angucke, ist die auch nicht leichter“, sagt der ultraschnelle Konterspezialist. Im Welthockey geht gerade alles sehr eng zu. Weltmeister Deutschland, Europameister Niederlande, Olympia-Titelverteidiger Belgien sowie Australien, Indien und Großbritannien können auf dem Endtableau jeden der Ränge eins und sechs belegen. Erstes Ziel daher: Vorrundenplatz eins oder zwei, denn „Belgien und Australien will man wirklich nicht im Viertelfinale haben“.

    Die Spiele in Paris werden nach dieser Leidensgeschichte eine völlig neue Erfahrung sein. Beim ersten Tor und eigentlich auch allen folgenden wird Christopher Rühr weiter an seinen vor sechs Jahren verstorbenen Vater denken. Allen anderen, „die mich auf diesem Weg begleitet haben und denen ich dankbar bin“, kann er ja etwas anderes widmen: Ein „Ja! Ja! Ja!“ wäre doch ideal.