Budapest. Sprint-Europameisterin Gina Lückenkemper startet heute im Vorlauf bei der Leichtathletik-WM. Interview über schnelle Rennen und den DLV.

Gina Lückenkemper ans Telefon zu bekommen, ist gar nicht einfach. Die 26-Jährige hat einen vollen Terminkalender. Als Gesicht der deutschen Leichtathletik, als Kapitänin des deutschen WM-Teams in Budapest, muss sie mehr unter einen Hut kriegen als nur ihre Trainingseinheiten – gerade vor einer anstehenden Weltmeisterschaft. Die Soesterin, die mittlerweile in Bamberg lebt und seit 2019 für den SCC Berlin startet, ist als amtierende Europameisterin über 100 Meter nach Budapest gereist, wo an diesem Samstag die WM begonnen hat. Heute ist ihr Vorlauf (ab 12.10 Uhr/ARD).

Gina Lückenkemper.
Gina Lückenkemper. © dpa

Für ein Telefonat hat sie vorher zwischen zwei Terminen Zeit. Sie ist erst recht gefragt, weil andere Stars wie Weitsprung-Weltmeisterin Malaika Mihambo verletzt abgesagt haben. Ausgerechnet im Jahr der Wiedergutmachung, nach dem schlechtesten WM-Ergebnis in Eugene/Oregon, fallen etliche Medaillenkandidaten aus. Es klingt wie ein schlechter Scherz. Doch genau damit kennt sich Gina Lückenkemper aus.

Frau Lückenkemper, gestern war Flachwitz-Freitag – Sie sind großer Fan dieser Art Scherze. Kennen Sie einen guten mit Blick auf die WM?

Gina Lückenkemper: (lacht) Nee, da fällt mir gerade kein neuer ein.

Haben Sie denn einen Leichtathletik-Klassiker?

Gina Lückenkemper: Ehrlich gesagt: Ich kenne tatsächlich keinen Leichtathletik-Flachwitz, was schon echt schade ist.

Ist die Leichtathletik eine so ernste Angelegenheit?

Gina Lückenkemper: Aber hallo! Das ist voll ernst! (lacht)

Einen habe ich trotzdem: Was sind die letzten Worte des Leichtathletik-Trainers?

Gina Lückenkemper: Ach, na klar: Alle Speere zu mir!

Exakt!

Gina Lückenkemper: Den kenne ich – aber mit einem Sportlehrer.

Ähnlich tragisch. Apropos Speer – da sind wir schon beim Thema. Speerwurf-Europameister Julian Weber und Sie führen das deutsche Aufgebot bei der Leichtathletik-WM an. Mit welchem Gefühl sind Sie in Ungarns Hauptstadt?

Lückenkemper mit einem guten Gefühl zur WM nach Budapest

Gina Lückenkemper: Mit einem guten. Ich habe mich schon das ganze Jahr auf diese Weltmeisterschaften in Budapest gefreut und bin einfach voller Vorfreude auf eine schöne WM. Ich glaube, das wird richtig cool.

Weil Sie richtig abliefern wollen oder weil das Event gut wird?

Gina Lückenkemper: Sowohl als auch. Jeder internationale Höhepunkt bleibt immer etwas Einzigartiges – egal ob EM, WM oder Olympia. Es wird auf ewig etwas Besonderes bleiben, zu solchen Großereignissen hinfahren zu dürfen und sich da in seiner Sportart mit den Besten der Welt zu messen. Es ist einfach eine Ehre, da an den Start gehen zu dürfen.

Budapest ist Ihre fünfte WM – fahren Sie mit einem anderen Selbstbewusstsein dahin, weil sie diesmal als Europameisterin antreten?

Gina Lückenkemper: Ich würde jetzt nicht unbedingt sagen, dass mein Selbstbewusstsein durch den Titel ein anderes geworden ist. Ich fühle mich ja auch nicht anders als vor dem EM-Sieg. Ich habe nach wie vor das Bedürfnis, möglichst schnell zu rennen – und am allerliebsten schneller als alle anderen.

Nimmt die Konkurrenz Sie denn seit dem vergangenen Jahr anders wahr?

Gina Lückenkemper: Ich merke zumindest, dass sie mehr oder noch genauer hingucken. Aber es ist nicht großartig anders. Ich sag mal so: Den Namen Lückenkemper kennt man seit 2017, als ich bei der WM in London die 10,95 gelaufen bin.

Die große Bühne scheint Ihnen zu liegen…

Gina Lückenkemper: Ja, das wäre auch echt schade, wenn nicht. Darauf kommt es ja am Ende an: Dass es beim Großereignis richtig zur Sache geht und man da möglichst seine beste Leistung des Jahres auf die Bahn bringt. Großereignisse liegen mir – es macht mir einfach Spaß, und ich glaube, dadurch fällt es mir vielleicht auch leichter, so zu performen, wie ich es dann tue.

Wenn man weiß, dass man im Kreis der Besten so abliefern kann, ist das sicher gut für das eigene Zutrauen.

Gina Lückenkemper.
Gina Lückenkemper. © dpa

Gina Lückenkemper: Ja, ich habe das ja auch schon im Training, dass ich mich mit den Besten messe, dass ich täglich Wettkampf habe. Ich mache den Sport ja auch, weil ich den Wettkampf mag.

Sie werden seit Ende 2019 von Lance Brauman in Florida trainiert – gemeinsam mit Top-Athleten wie 200-Meter-Weltmeister Noah Lyles aus den USA und dem südafrikanischen 400-Meter-Weltrekordhalter Wayde van Niekerk. Wie ist der Umgang untereinander?

Gina Lückenkemper: Meine Lieblingsbeispiele sind da immer die mit Wayde van Niekerk. Wir necken und ärgern uns immer ein wenig. Wenn wir Koordinationsübungen miteinander machen, dann artet das sofort in einen Wettkampf aus. Wenn Wayde dann vor mir fertig ist, reißt er immer die Arme in die Höhe und ruft: „I beat the european champ“. Ich meine, so als Weltrekordhalter…

… kann man sich schonmal freuen, die Europameisterin geschlagen zu haben. Und wie reagieren Sie?

Gina Lückenkemper: Manchmal überrasche ich Wayde. Er rechnet dann gar nicht damit, dass ich direkt einen Wettkampf starte. Sein Ehrgeiz ist dann zwar schnell geweckt, aber manchmal bin ich ihm doch zwei Schritte voraus mit meinem Schabernack und rufe dann auch: „I beat the world record holder“.

Lückenkemper schätzt Support in internationaler Trainingsgruppe

Wie ist es für Sie, mit so einer hochklassigen Gruppe zu einer WM zu fahren?

Gina Lückenkemper: Wir reißen uns im Winter gemeinsam so den Hintern auf, um bei den Großereignissen als Team am Start zu stehen. Das ist ein ganz besonderer Support, man unterstützt sich wirklich sehr. Es tut mir einfach gut.

Profitieren Sie von den unterschiedlichen Erfahrungen im Team?

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Gina Lückenkemper: Ja, absolut. Von Athleten bekommt man ein ganz anderes Feedback als von einem Trainer. Ich bin aber auch sehr froh, einen so erfahrenen Coach zu haben, der einen auch mal einnorden kann.

In München hat er Ihnen die entscheidenden Worte vor dem Finallauf mitgegeben, am Ende waren Sie Europameisterin.

Gina Lückenkemper: Allerdings. Ich habe mir den Arsch aufgerissen – und am Ende leider auch das Knie. (lacht)

Ihr Sturz hinter der Ziellinie war spektakulär: Haben Sie die Narbe am Bein noch?

Gina Lückenkemper: Ja, die sieht man noch ordentlich, aber es tut nicht mehr weh. Ich hatte mit der Heilung auch keine Probleme.

Grundsätzlich sind Sie fit durch den Winter gekommen.

Gina Lückenkemper: Ja – bis hierher. Da wird direkt mal auf den Holzkopf geklopft. (lacht) Gesund zu bleiben, ist das A und O. Wenn man Trainingsausfälle hat, rächt sich das sofort. Bei mir hat man ja im vergangenen Jahr, in dem ich komplett gesund geblieben bin, gesehen, wie viel besser ich in der Lage war, konstant gute Leistung zu bringen, wenn ich keine Trainingsausfälle habe. Darauf konnten wir aufbauen.

Trotzdem steht in diesem Jahr noch keine Zeit unter elf Sekunden – braucht es dafür wieder die große Bühne?

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Gina Lückenkemper: Das sehen wir dann – die muss man ja auch erstmal laufen. Dafür müssen viele Faktoren zusammenspielen. Aber ich habe mit der WM noch eine Rechnung offen, mein Ziel ist es nach wie vor, in ein Einzelfinale zu kommen – und dafür muss man unter elf Sekunden laufen. Das ist für mich realistisch, aber es ist einfach Fakt: Auf 100 Metern darf man sich keinen Fehler erlauben. Wenn es mir gelingt, so wenig Fehler wie möglich zu machen – dann kann es auch ordentlich schnell werden.

WM-Konkurrenz macht Lückenkemper nicht mehr nervös

Sie sind in der Meldeliste die Nummer 16, acht Frauen sind in diesem Jahr schon 10,90 Sekunden oder schneller gelaufen. Setzt Sie das unter Druck?

Gina Lückenkemper: Nein, ich betrachte da nur mich. Ich kann ja nichts daran ändern, was andere auf die Bahn bringen – und auch die müssen das bei der WM erstmal laufen. Es bringt mir überhaupt nichts, mich auf meine Gegnerinnen zu konzentrieren. Im Gegenteil: Das raubt mir Energie.

Machen Sie Namen wie der von Titelverteidigerin Shelly-Ann Fraser-Pryce noch nervös?

Gina Lückenkemper: Nein, ich laufe seit 2015 gegen diese und andere Konkurrentinnen – das schockiert mich nicht.

So wie Sie hat auch der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) noch eine Rechnung mit der WM offen. 2022 setzte es mit nur einmal Gold und einmal Bronze eine Enttäuschung. Wie erleben Sie die Aufarbeitung? Werden Sie als Athleten gut mitgenommen, um den Verband in Zukunft wieder erfolgreich zu machen?

Gina Lückenkemper: Man hat zwar mal einen Call mit uns gemacht und gesagt, man würde gerne zum Thema Athletenförderung noch mehr machen, aber da ist leider nichts weiter passiert. Es ist aber auch so: Das, was sich der DLV vorgenommen hat, ist nichts, was man heute auf morgen so umgesetzt bekommt. Vor allem, wenn man Athleten miteinbinden will, ist das während einer Saison auch unfassbar schwierig. Das ist keine einfache Aufgabe, aber ich habe einige gute Gespräche gehabt und glaube schon, dass der Verband an sich da auf einem guten Weg ist. Von daher bin ich gespannt, wie es dieses Jahr läuft.

Für die WM gab es viele Absagen: Nach Weitsprung-Titelverteidigerin Malaika Mihambo fehlen auch Lauf-Ass Konstanze Klosterhalfen sowie Stabhochsprung-Hoffnung Bo Kanda Lita Baehre. Wie erleben Sie das?

Gina Lückenkemper: Ich habe natürlich mitbekommen, dass es einige Ausfälle gibt, aber was genau in den einzelnen Disziplinen passiert, kann ich gar nicht genau sagen. Ich habe mich um meinen Start zu kümmern.

Lückenkemper: Keine Scheißstimmung nach Ausfällen in WM-Staffel

Nun sind Sie mit der Staffel selbst betroffen: Von dem WM-Bronze-Quartett sind nur Sie und Rebekka Haase übrig. Auch Lisa Mayer, die beim EM-Sieg Teil der Staffel war, fällt aus.

Gina Lückenkemper: Das ist super ärgerlich, weil unser Jahr eigentlich sehr, sehr gut losgegangen ist im deutschen Frauensprint. Lisa ist stark in die Saison eingestiegen, bei Alexandra Burghardt sah es auch vielversprechend aus. Dann hat sich auch noch Jenny Montag verletzt. Wir müssen schauen, was das am Ende gibt. Aber das ist halt der Sport. Wer glaubt, dass es im immer nur bergauf geht, der versteht ihn nicht richtig. Es gibt immer ein Auf und Ab. Auch emotionale Belastung durch den Sport kann Auswirkungen auf den Körper haben. Das unterschätzen leider viele immer noch.

Wie bleibt man da positiv? Indem man in der Herausforderung eine Chance sieht?

Gina Lückenkemper: Ja, genau. Uns bleibt ja auch gar nichts anderes übrig, als positiv zu bleiben. Das wäre ja sonst frustrierend: Da fährst du mit einer Scheißstimmung zur WM, und dann? Damit gewinnst du ja auch keinen Blumentopf. Also nehmen wir die Situation an.

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Bei aller Aufmerksamkeit: Fällt es Ihnen schwer, den richtigen Weg für sich zu finden?

Gina Lückenkemper: Was mir früher am schwersten gefallen ist, ist die Tatsache, dass viele Leute ein „Nein“ nicht akzeptieren. Ich musste lernen, darüber zu stehen und auch mal einen Termin abzulehnen, wenn ich merke, dass ich mich zurücknehmen muss, um mich weiter auf den Sport zu fokussieren. Mittlerweile bin ich da rigoros geworden und kapsle mich ab, wenn ich das Gefühl habe, ich brauche das für mich. Da muss ich auch auf mich aufpassen.