Geksenkirchen. Die deutsche Nationalmannschaft gleicht vor der Heim-EM einem Scherbenhaufen. Rudi Völler zählt die Spieler an – den Trainer aber nicht.
Es könnte Ironie gewesen sein, aber die Befürchtung liegt nahe, dass es der Stadionsprecher in der Schalker Arena völlig ernst meinte. „Vielen Dank für diese atemberaubende Atmosphäre“, murmelte er ins Mikrofon. Naja.
Die Darbietung der deutschen Nationalmannschaft verärgerte nämlich den größten Teil der 50.421 Zuschauern, die dem letzten Länderspiel der Saison beiwohnten. Sie sahen ein blamables 0:2 (0:0) gegen Kolumbien, bei dem Luis Diaz (54.) und Juan Cuadrado (82.) nach einem von Joshua Kimmich verursachten Handelfmeter für die Südamerikaner trafen. Die deutschen Fans pfiffen schon zur Halbzeit ihre inspirationslose Elf aus, sie machten nach Abpfiff nahtlos damit weiter – und setzten noch einmal einen drauf, als der Stadionsprecher ihnen in alter DFB-Tradition ein Fußballfest verkaufen wollte. Die Menschen des Ruhrgebiets lassen viel mit sich machen, aber veralbert werden wollen sie nicht.
0:2 gegen Kolumbien ist der nächste Tiefpunkt für das DFB-Team
Ein Jahr vor der Heim-Europameisterschaft, dem von der sportlichen Führung zum zweiten Sommermärchen auserkorenen Turnier, hat die deutsche Mannschaft eine katastrophale Spielzeit mit dem nächsten Tiefpunkt beendet. In den drei Partien im Juni rettete sie sich gegen die Ukraine zu einem Remis, verlor in Polen und gegen Kolumbien – die Bilanz einer völlig konzeptlosen Auswahl, die – wäre sie nicht für die EM gesetzt – ernsthaft um eine Qualifikation bangen müsste. Von den vergangenen 16 Länderspielen hat Deutschland vier gewonnen, gegen eine mit Wohlwollen als B-Elf zu bezeichnende italienische Mannschaft, den Oman, Costa Rica und Peru – willkommen im Mittelmaß. „Ich weiß nicht, ob bedenklich reicht“, schimpfte Leon Goretzka. „Die Lage ist dramatisch, das muss man ganz klar sagen.“
Rudi Völler hatte vor einigen Wochen seinen Job als Sportdirektor mit einer klaren Aufgabe angetreten. „Der Rudi“ sollte alle Sorgen nach dem WM-Aus in Katar locker leicht wegmoderieren, wie es ein Rudi Völler eben macht: auf die schwierigen Fragen des deutschen Fußballs bis zur EM leichte Antworten finden. Wie damals, in der guten alten Zeit. Jetzt plötzlich aber ist der 63-Jährige als Krisenmanager gefragt und wirkt dabei, wie derzeit fast alle bei der Nationalelf, überfordert.
Die Gemengelage im DFB-Team ist komplex
„Nach den drei Spielen muss man sagen, dass die Qualität nicht die allergrößte ist wie vor einigen Jahren“, meinte Völler, nachdem er in den Tagen zuvor gebetsmühlenartig die große Qualität der Mannschaft hervorgehoben hatte. „Da sind einige dabei gewesen, die werden wir im September vielleicht nicht mehr sehen.“ Und den Bundestrainer? „Hansi Flick ist so ein bisschen die ärmste Sau. Er versucht ja alles, dass wir erfolgreich sind“, meinte Völler. Auch die Spieler stellten sich vor ihrer Abfahrt in den Urlaub hinter ihren Trainer. „Absolut, ich glaube nicht, dass wir das diskutieren müssen“, antwortete Emre Can auf die Frage, ob Flick noch der Richtige sei.
Die Gemengelage 358 Tage vor dem ersten Gruppenspiel ist ja durchaus komplex. Die Profis sind diese Abstellungsperiode in der Sommerpause angetreten, eine mit drei Tests und ohne Qualifikationsdruck. Nicht einfach, da die Spannung zu halten – gerade die Vertreter Bayern Münchens schleppten sich schon durch die letzten Wochen der Bundesliga-Saison.
Flicks Experiment mit einer Dreierkette scheitert krachend
Andererseits erkennt man seit gut einem Jahr keinerlei Fortschritt, kein Konzept. Und das liegt in der Verantwortung des Trainers. Hansi Flick wollte in diesem Sommer eine Dreierkette als alternatives Spielsystem einstudieren lassen, hat blöderweise jedoch gar kein primäres, kein Grundgerüst. Das Experiment ist dermaßen krachend gescheitert, dass Can am Dienstag die sofortige Rückkehr zur Viererkette forderte.
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„Was wir ausprobiert haben, hat nicht funktioniert“, gab auch Flick zu. „Es ist in die Hose gegangen.“ Bayerns einstiger Erfolgstrainer, der seine Aufstellungen, so scheint es zumindest, wahllos durchwürfelt, ist allerdings nach wie vor vollends von sich selbst überzeugt – und erinnert damit an die Kopf-durch-die-Wand-Philosophie des späten Joachim Löw. „Meine Idee vom Fußball ist für diese Mannschaft die richtige“, behauptete Flick. Eine These, für die er immer weniger Argumente parat hat.
Dem klammen DFB fehlen die Alternativen
Für Flick spricht (nur) noch die Nibelungentreue seines Vorgesetzten – und, dass die Sommerpause zum richtigen Zeitpunkt kommt. Erst im Herbst trifft sich die Nationalelf wieder für die Spiele in Wolfsburg gegen WM-Schreck Japan (9. September) und in Dortmund gegen Frankreich (12. September). „Wir werden versuchen, einen Stamm von zehn, zwölf, vierzehn Spielern dann auch wirklich festzuzurren und zu benennen“, kündigte Flick an. Also das zu tun, wofür er nun seit fast zwei Jahren bezahlt wird.
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Der klamme DFB muss sich bis dahin überlegt haben, ob und wie es überhaupt mit Flick, der kaum selbst hinwerfen wird, weitergehen kann. Eine Freistellung erscheint aber zwölf Monate vor der EM noch unrealistisch, weil geeignete Kandidaten fehlen. Jürgen Klopp, der Mannschaft und Fans im Nu vereinen könnte, steht beim FC Liverpool unter Vertrag. Julian Nagelsmann wird noch von den Bayern fürstlich bezahlt. Stefan Kuntz, ehemaliger U21-Erfolgscoach, verantwortet nun die Türkei. Alle müssten ohnehin erstmal einen Scherbenhaufen zusammenfegen. Ein Jahr vor der Heim-EM gleicht diese Aufgabe einem Himmelfahrtskommando.