Im Missbrauchs-Fall Kardinal Hengsbach beschimpfen viele fromme Katholiken die Opfer und nehmen den klerikalen Täter in Schutz. Warum nur?

Mitleid ist eine Erfindung des Christentums. In der Antike war die Compassio unbekannt. Die Christen hingegen leiden mit dem Erlöser, der ans Kreuz genagelt wird. Aus dieser Anteilnahme heraus verändern sie ihr Verhalten. Das erwies sich als revolutionäres Konzept.

Wer mehr als 2000 Jahre später die Kommentare zum Missbrauchsfall Kardinal Hengsbach studiert, merkt aber schnell, dass es bei Katholiken mit der Compassio nicht mehr weit her ist. Tatsächlich wird eifrig Opfer-Täter-Umkehr betrieben. Es sei doch bekannt, dass Frauen gerne berühmte Männer vermeintlicher sexueller Übergriffe bezichtigen würden, und meistens sei das gelogen. Solche Sätze gehören noch zu den harmlosen Äußerungen. Ohne Not würde eine Lichtgestalt des deutschen Katholizismus‘ demontiert und vorverurteilt, der sich nicht mehr wehren könne. Der Bischof von Essen würde dem woken Zeitgeist folgen. Es gibt in diesen Kommentaren kein Mitgefühl mit den Betroffenen.

Es ist in der Tat ungewöhnlich, einen Beschuldigten erkennbar mit Namen zu nennen, meist heißt es „Priester H.“ oder Priester A“. In diesem Fall haben sich die Bistümer Essen und Paderborn bewusst dafür entschieden, weil es vermutlich ein Dunkelfeld gibt. Das bestätigte sich bereits. Weitere Opfer haben sich gemeldet. Hengsbach und sein Bruder hatten jedenfalls kein Mitgefühl mit dem Leid und der Angst derer, denen sie sexuell Gewalt antaten.

Der Fall Hengsbach zeigt exemplarisch, warum Betroffene oft davor zurückscheuen, sich zu melden. Vor allem fürchten sie, dass ihr katholisches Umfeld sie identifizieren und ausgrenzen könnte. Ausgerechnet Katholiken, die sich selbst für besonders fromm halten, treiben oft die Ächtung voran.

Die Überhöhung des Priesteramtes wird als eine Ursache genannt, warum der Missbrauch sich ungestört so tief in die katholische Seele hineinfressen konnte. Der überhöhte Priester braucht Anbeter, Bewunderer, sonst funktioniert es nicht. Einige Gemeindemitglieder sind offenbar bereit, viel zu ignorieren, um ihr Idol auf dem Sockel zu halten. Sofern sich diese unheilvolle Dynamik nicht ändert, wird die Kirche nicht aus der Krise herauskommen. Immer neue Berichte von Priestern, die denken, dass Regeln für sie nicht gelten, bleiben ja nicht aus. Missbrauch ist auch Gegenwart.

Die Frage ist: Wie sehr braucht das Katholische den Personenkult um Priester? Sind das Abhängigkeiten, die den Kern ausmachen? Oder ist es nur eingeschliffenes Fehlverhalten, und der Kern besteht eben doch aus der Compassio.