Ruhrgebiet. Mehr Bettelnde treten aggressiver auf – sie prägen das Bild. Auch der Vormarsch einer bestimmten Droge spielt dabei eine Rolle.
„Im Namen aller Mieter“ bittet das Duisburger City Palais seine Kunden, Bettelnden kein Geld mehr zu geben. So steht es auf Schildern mit einem roten Stopp-Zeichen. Begründung: die „aggressive Ansprache“. Am Essener Kennedyplatz patrouilliert nun eine Gastro-Streife. Den Sicherheitsdienst bezahlen die Restaurants und die städtische Marketing-Gesellschaft gemeinsam, um weitere Beschimpfungen, Spuckattacken und auch Diebstähle zu verhindern. Parallel bemühen sich Streetworker gezielt um die sucht- und psychisch Kranken. Sie prägen das Bild – oder hat sich die Szene verändert? Die wichtigsten Fakten.
Betteln mehr Menschen als früher?
Eine verlässliche Statistik über Bettelnde gibt es nicht. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe hat 2022 geschätzt, dass deutschlandweit etwa 50.000 Menschen auf der Straße leben. Das sind doppelt so viele wie zehn Jahre zuvor, allerdings war dieses Niveau schon 2016 erreicht und schwankt seitdem.
Eine Hochrechnung im ersten Wohnungslosenbericht der Bundesregierung kommt für 2022 auf eine etwas niedrigere Zahl: Demnach lebten rund 37.400 Menschen auf der Straße oder in Behelfsunterkünften. Aber natürlich bettelt nur ein kleiner Teil dieser Gruppe — und nicht alle Bettelnden sind obdachlos.
Nach Einschätzung der Essener Dezernenten Peter Renzel (Soziales) und Christian Kromberg (Ordnung) hat die Zahl der still bettelnden Menschen nicht zugenommen. Sie seien nur sichtbarer geworden, weil nicht mehr so viele Menschen in der Innenstadt einkaufen gehen. „Auf dem Weg vom Bahnhof zum Rathaus werde auch ich manchmal vier- oder fünfmal angesprochen“, sagt Kromberg. Auch als Bürger könne er nachvollziehen, dass dadurch ein subjektives Unsicherheitsgefühl entstehe.
Sind die Bettler aggressiver geworden?
Das lässt sich nicht so pauschal beantworten, aber immer öfter fühlen sich Menschen von Bettlern bedroht. Das liegt in Essen aber an einer relativ kleinen Gruppe, etwa zehn psychisch kranken und drogenabhängigen Obdachlose machen den Behörden immer wieder Probleme. Einige gehen aggressiv Passanten oder Restaurantgäste um Geld an.
In Dortmund gab es im vergangenen Jahr eine Zunahme von Beschwerden über aggressives Betteln. Mittlerweile führe der erhöhte Kontrolldruck aber zu einem Rückgang der Fallzahlen, heißt es von der Stadt.
Das Duisburger City-Palais hat jüngst den Wachdienst erhöht, weil so viele Besucher aggressiv angesprochen würden. Die Bettelnden werden nun konsequent angezeigt, mehrere Hundert Male schon.
Auch in Bochum habe sich die Zahl der Bettelnden erhöht, bestätigte die Stadt. Und in Oberhausen, zeigte eine Recherche, dass einige Bettelnde aggressiver auftreten.
Trägt die Inflation dazu bei?
„Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer mehr auseinander, die Inflation verstärkt dieses Problem“, sagt Hubert Ostendorf, Gründer und Geschäftsführer des Straßenmagazins „Fiftyfifty“. „In der Sozialberatung klagen immer mehr Menschen, dass sie nicht klarkommen.“ Aber das heiße nicht automatisch, dass mehr Menschen betteln.
Essens Sozialdezernent Peter Renzel sagt: „In dieser Stadt muss niemand hungern. Auch in der Innenstadt haben die Leute von morgens bis abends die Möglichkeit, versorgt zu werden für keines oder kleinstes Geld.“ Auch die Notschlafstellen kosten kein Geld. „Wenn man in den Einzelfall reingeht, sind in diesem Land alle diese Probleme lösbar.“ Allerdings weiß Renzel auch: „Es gibt eine Spirale aus sozialer Not und psychischen Erkrankungen. Das hat sich wirklich verändert.“
Straßenmagazin-Gründer Ostendorf nimmt vor allem eine Verschiebung wahr: Mehr Menschen betteln, die früher vielleicht eine Straßenzeitung verkauft hätten. Das habe auch mit dem wirtschaftlichen Druck auf die bürgerliche Mitte zu tun. Weniger Menschen seien bereit, etwas zu geben. „Wir erleben nicht, dass das Betteln aggressiver wird. Wenn, dann werden die Bettler aggressiver verscheucht und angegangen.“
Welche Rolle spielen Drogen?
Der Essener Sozialdezernent Peter Renzelt sagt, dass Betteln in den meisten Fällen der Suchtfinanzierung diene. Es gab in Essen sogar mal den Versuch einer Umfrage dazu: Sechs von sieben Bettelnden haben dabei angegeben, dass sie Bürgergeld bekommen und „ergänzend“ betteln, meist, um den Drogenkonsum zu finanzieren. Aber die Zahl ist natürlich nicht repräsentativ.
In Dortmund fällt rund die Hälfte der „aggressiven“ Bettelnden mit öffentlichem Drogenkonsum auf, heißt es von der Stadt. Und dieser hat sich verschoben. Crack ist auf dem Vormarsch, in der Region besonders in Dortmund.
Essen ist bislang weitgehend verschont geblieben. Die Dezernenten Renzel und Kromberg beobachten die Entwicklung dennoch mit Sorge. „Die endgültige Verwahrlosung setzt ungleich schneller ein“, erklärt Renzel. Die Abstände, in denen die Süchtigen „Stoff“ brauchen, werden kürzer. Sie selbst werden damit aggressiver.
Crack wird geraucht und tatsächlich findet die Essener Polizei vermehrt Pfeifen und weniger Spritzen. „Aber Crack selbst finden wir nicht bislang, noch sind Heroin und Kokain vorherrschend.“, sagt Jörg Jungnitsch, der seit Jahrzehnten als Polizist in der Innenstadt arbeitet und zuständig ist für den Bezirksdienst in Essen-Süd.
Woher stammen die Bettler?
Vor 20 Jahren kam laut Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe nur jeder zehnte Obdachlose aus dem Ausland, heute sind es in Großstädten über die Hälfte. Die meisten stammen aus dem EU-Ausland, sehr viele aus Polen.
Die Gruppe der polnischen Betroffenen wachse auch in Essen, sagen Streetworkerinnen von Diakonie und CSE. „Die werden häufiger mit prekären Beschäftigungen hergelockt“, erklärt Streetworkerin Mari* Alishah. „Und wenn sie den Job hinschmeißen, stehen sie erstmal ohne Wohnung und mittellos da.“ Auch in Unkenntnis ihrer Rechte wenden sie sich womöglich erst an Landsleute. Gleiches gelte für Bulgaren. Und wenn nichts mehr geht, dann betteln einige still. Nicht-EU-Bürger treffe man selten an.
Sind die Bettlergruppen aus Südosteuropa als Banden organisiert?
Viele Bettler in den Städten kommen aus Südosteuroa. Für Streetworkerin Mari* Alishah zeigt das: „Es ist offenbar hier immer noch weniger schlimm, arm zu sein.“
Massiv gewachsen sei die Zahl der Bettler aus diesen Ländern aber nicht, sagt Alishah. Vielleicht seien es ein paar mehr geworden, aber eigentlich kenne man die meisten Personen seit Jahren. „Sie haben feste Plätze und sehen das Betteln als ihren Job an. Von 8.30 Uhr und um 17 Uhr ist Feierabend. Bei einigen weiß ich, in welchen Hauseingängen sie schlafen.“
Auf echte „Bettelbanden“ von außerhalb trifft das Essener Ordnungsamt ein-, zweimal im Jahr. „Die Menschen kommen aus Clanzusammenhängen“, sagt Dezernent Kromberg. „Sie treten mit bis zu zwölf Personen in der Innenstadt auf. Dagegen gehen wir sofort rigoros vor.“ In Stuttgart sei es mal gelungen, einen Geldeintreiber festzunehmen, man fand Tageseinnahmen von 7000 Euro bei ihm.
Auch die Polizei hat keine Erkenntnisse über bandenmäßigen Bettelbetrug in Essen. Polizist Jörg Jungnitsch sagt: „Es wurde zwar schon an mich herangetragen, dass einer rumgeht und abkassiert.“ Aber beobachtet haben er und seine Kollegen das nicht in den vergangenen Jahren. Auch Zeugen haben sich nicht dazu gemeldet.
Hubert Ostendorf von „Fiftyfifty“ findet, es sei antiziganistisch von „Bettelbanden“ zu sprechen. „Es ist doch erst mal lobenswert, wenn sich arme Menschen in Familienverbänden organisieren und gegenseitig unterstützen.“ Gleichwohl sieht auch er, dass um die Weihnachtszeit herum „vermehrt Menschen aus Südosteuropa kommen“, um in Deutschland zu betteln. In dieser Zeit stellt Fiftyfifty keine Verkaufsausweise aus.
Welche Rolle spielt Bettelbetrug?
Noch Anfang der Zehner-Jahre gab es „den Klassiker“: Betrüger taten, als seien sie blind oder verkrüppelt. Das sei „aus dem Stadtbild verschwunden“, sagt Polizist Jörg Jungnitsch. Zahlen zum Bettelbetrug erhebt die Polizei nicht gesondert. Darum kann Jungnitsch nur von seinen Erfahrungen und Einschätzungen berichten.
Die Stadt hat 2017 per Verordnung die Regeln verschärft: Für Betrügereien können Strafen von 1000 Euro fällig werden. Ob man sie eintreiben kann, steht auf einem anderen Blatt. Auch das Betteln mit Hilfe von Kindern und Tieren ist verboten. Das Vortäuschen von Notlagen stellt eine Ordnungswidrigkeit dar. Schilder wie „Ich habe Hunger“ werden allerdings geduldet – wie sollte man solche Aussagen überprüfen?
Auch andere Formen des Bettelbetrugs werden seltener. Die Menschen mit den Klemmbrettern, die vorgaben für einen guten Zweck zu sammeln, treten in der Innenstadt nicht mehr in Erscheinung, sagt Polizeisprecher Pascal Pettinato. In den Wohnvierteln allerdings gehen durchaus noch Betrüger um, mit diversen Maschen, die zum Teil unter Betteln fallen. Pettinato rät: „So leid es mir für Soziale Organisationen tut: Auf der Straße sollte man kein Bargeld abgeben. Seriöse Organisationen verfügen immer über ein Konto – immer auch in Deutschland.“
Was tut Essen gegen aggressive Personen?
Die Stadt Essen hat durchaus investiert: Die Stellen im Kommunalen Ordnungsdienst haben sich seit 2012 fast vervierfacht auf 33. Mit Zivilstreifen gehen die Mitarbeitenden auch gegen aggressives Betteln vor. Das stille Betteln dulden sie.
Den besonders aggressiven Personen gilt ein aufsuchendes Hilfsprojekt ebenso wie der auffällig platzierte Sicherheitsdienst am Kennedyplatz: eine „Gastro-Streife“ nach Dortmunder Vorbild. Wegsperren kann man sie nicht einfach. Das Gesetz, das die Schutzmaßnahmen bei psychischen Krankheiten regelt (PsychKG), lasse eine Zwangseinweisung nur zu, wenn die betreffende Person andere gefährdet, erklärt Sozialdezernent Renzel. „Man muss Unterstützung und Repression in der Waage halten.“
Ist Jonglage an Kreuzungen erlaubt?
„Das Vortäuschen künstlerischer Darbietungen ist verboten“, sagt der Essener Ordnungsdezernent Christian Kromberg. Wobei man natürlich darüber streiten könne, ob Pantomime oder Jonglage nun Kunst sind oder nicht. „Wenn wir es sehen, unterbinden wir es.“ Die Personen seien nicht aggressiv. „Es gibt keine Beschwerdelage.“ Die Polizei erklärt, dass sich durchaus manchmal Bürger melden. „Aber die Darsteller sind in der Regel so professionell, dass sie den Verkehr nicht behindern“, sagt Polizist Jungnitsch.
Dürfen die Verkäufer von Obdachlosenzeitungen betteln?
Nein, Verkäufer von Straßenzeitungen sollen nicht betteln, trotzdem passiert dies immer wieder. „Es gibt keine Zunahmen an Beschwerden“, sagt „Fiftyfifty“-Geschäftsführer Ostendorf. „Aber eine Zunahme an Maßregelungen unsererseits, wenn wir zum Beispiel sehen, dass ein Bettelbecher mitgenommen wird. Aber auch das geht mehr von der Kundschaft aus. „Viele kaufen keine Zeitung mehr, sondern geben stattdessen einen Euro.“