Wuppertal. Ein heutiger WAZ-Redakteur war Reporter beim WDR in Wuppertal, als er Zeuge des Unglücks wurde – und dann plötzlich berichten musste.

Vor 25 Jahren ist ein Zug der Schwebebahn mehr oder weniger direkt vor meinem Schlafzimmerfenster heruntergefallen. Was das für einen jungen Journalisten und gebürtigen Wuppertaler bedeutete, habe ich zum Jahrestag des Unglücks aufgeschrieben. So viel vorweg: Es war ein Alptraum.

Als Kind hat mich mein Vater samstags gerne mitgenommen ins Zentrum Wuppertal-Barmens. Wir gingen eine halbe Stunde zu Fuß, fuhren dann mit der Schwebebahn von Oberbarmen zum Alten Markt. Dort gab es für ihn ein Bier und für mich eine Limonade. Ich habe es geliebt, diesen kleinen Ausflug mit dem Wahrzeichen Wuppertals, auf das ich stolz war und bin wie jeder Wuppertaler: das Hin- und Herpendeln der Wagen in den Bahnhöfen; das leise Surren beim Anfahren; das Quietschen in den Kurven; die souveräne Fahrt die Talachse entlang, mit bis zu 60 km/h vorbei an den Staus auf der B 7. 1901 eröffnet, verbindet die Schwebebahn alle wichtigen Stadtteile Wuppertals auf einer 13 Kilometer langen Strecke miteinander. Dass täglich mehr als 80.000 Menschen mit ihr fahren, zeigt ihre Bedeutung als Verkehrsmittel. Es ist zudem – nach wie vor – das wohl sicherste der Welt.

Als Elefant Tuffi in die Wupper plumpste

Bis vor 25 Jahren erzählte man sich in Wuppertal den bis dahin bekanntesten Unfall mit der Schwebebahn als lustige Anekdote. 1950 war die Elefantendame Tuffi bei einer Werbeaktion eines Zirkusdirektors aus der Schwebebahn in die Wupper geplumpst, nachdem sie das Blitzlichtgewitter der anwesenden Fotografen erschreckt und sie daraufhin in Panik eine Wand im Zug zertrümmert hatte. Tuffi kam mit ein paar Kratzern davon, und die Stadt hatte eine neue Geschichte rund um ihr wundervolles Wahrzeichen. Wer mag, kann sich den Tuffi-Sprung als Skulptur in Oberhausen ansehen. Menschen wurden damals nicht verletzt.

Doch dann kam der 12. April 1999, und es passierte das bis dahin völlig Undenkbare.

5.45 Uhr. Ein ohrenbetäubender Lärm, ich saß senkrecht im Bett. Mein erster Gedanke: Ein Flugzeug ist abgestürzt. Mein zweiter: Die Schwebebahn! Ich rannte zum Schlafzimmerfenster. Es war dunkel, es war still, nur weißer Dampf zischte leise aus einem gebrochenen Fernwärmerohr, das über die Wupper führte. Schemenhaft war direkt vor mir ein Zug zu erkennen, der auf der Seite im Fluss lag.

Der heutige stellvertretende Chefredakteur der WAZ, Alexander Marinos, war noch blutjunger Reporter beim WDR, als er zufällig Zeuge des Schwebebahnunglücks vor 25 Jahren wurde.
Der heutige stellvertretende Chefredakteur der WAZ, Alexander Marinos, war noch blutjunger Reporter beim WDR, als er zufällig Zeuge des Schwebebahnunglücks vor 25 Jahren wurde. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Damals wohnte ich am Robert-Daum-Platz, erste Etage, mit Logenplatz zur Wupper und zur Schwebebahn hin. Ich war Reporter beim WDR und hatte am Vorabend noch mit einem Freund aus München, ebenfalls Journalist, telefoniert. „Wenn eines Tages die Schwebebahn vor deinem Fenster abstürzt, kommst du groß raus“, witzelte er etwas makaber.

Monatelang schon hatten Bauarbeiten am Gerüst meinen Schlaf gestört. An den Wochenenden wurde rund um die Uhr das gesamte Tragekonstrukt ausgetauscht. Dabei hatten Bauarbeiter unter Zeitdruck frühmorgens eine sogenannte Stahlkralle im Gleis vergessen, die während der Arbeiten für Stabilität sorgen sollte. Als der erste Zug kam, riss beim Aufprall auf die Kralle ein Drehgestell der Bahn ab. Sie entgleiste und stürzte fast zehn Meter tief in die wenig Wasser führende Wupper.

Absturz der Schwebebahn? Niemals!

Panik kroch in mir hoch. Ich lief zum Telefon. 112. „Die Schwebebahn ist abgestürzt.“ Der Mann am anderen Ende der Leitung reagierte ungläubig, dachte vielleicht an einen verspäteten, schlechten April-Scherz. „Ja, klar, die Schwebebahn ist abgestürzt.“ Womöglich war auch er ein gebürtiger Wuppertaler. Für einen solchen stürzt eher der Mond auf die Erde als ein Zug der Schwebebahn in die Wupper. Doch als noch mehr verzweifelte Anrufe in der Leitstelle ankamen, liefen die Rettungsmaßnahmen binnen Minuten an.

Ich schnappte mir intuitiv alle Handtücher, die ich greifen könnte, und stürzte mit anderen Anwohnern die Treppe hinunter. Es war noch immer gespenstisch leise am Wupperufer. Niemand schrie, niemand rief um Hilfe. Ein erster Polizeiwagen bog um die Ecke. Ein Polizist stieg aus und leuchtete mit seiner Taschenlampe auf die Unglücksstelle. Auch er sagte keinen Ton. Er erstarrte geradezu. Nur langsam stiegen erste Passagiere aus dem Zug. Einige waren blutverschmiert. Dann kamen Feuerwehrleute, Krankenwagen, Hubschrauber. Erst später wurde klar: Fünf Menschen hatten ihr Leben verloren, 47 waren schwer verletzt. Der Mythos Schwebebahn lag am Boden.

Plötzlich live auf Sendung

Es war kurz nach 6 Uhr, als ich begann zu realisieren, dass ich als Journalist nun einen Job zu erledigen hatte. Ich schnappte mir das Handy und ließ mich in die WDR-2-Redaktion durchstellen. Ein Redakteur meldete sich. „Die Schwebebahn ist abgestürzt“, sagte ich. Der Kollege zögerte. Er kannte mich nicht und konnte von Köln aus nicht überprüfen, ob die Geschichte stimmt. Jeder Spinner hätte sich in die Redaktion durchstellen lassen können. Zum Glück glaubte er mir. Schon hörte ich im Hintergrund den Morgenmagazin-Moderator: „In Wuppertal soll ein Zug der Schwebebahn abgestürzt sein. Am Telefon ist ein Reporter vor Ort. Was ist passiert?“ Mir rutschte das Herz in die Hose. Ich war live auf Sendung.

Eine ARD-Anstalt nach der anderen wollte nun die Geschichte hören, die der zunächst einzige Reporter vor Ort erzählen konnte. Ein Moderator des SFB (Sender Freies Berlin) fragte, wie diese Schwebebahn funktioniert. Etwa mit Zahnrädern? Ich antwortete möglichst simpel: „Stellen Sie sich eine Straßenbahn vor – nur umgekehrt.“ Der Berliner gab sich damit zufrieden. Dann rief einer vom holländischen Fernsehen an: „Wieviele Holländer waren in der Bahn?“ Ich drückte ihn weg.

Drei Tote lagen im Hauseingang

Irgendwann lagen hinter der Eingangstür des Hauses, in dem ich wohnte, drei Menschen. Ich fragte einen Polizeibeamten, was mit ihnen sei. „Sie sind tot“, antwortete er. Offenbar hatten Rettungskräfte die Verstorbenen vorübergehend dort abgelegt. Als endlich Reporter-Verstärkung kam, schaltete ich das Handy aus. Mir war zum Heulen zumute. Erst jetzt registrierte ich, dass ich damit nicht alleine stand. Halb Wuppertal hatte sich im Laufe des Tages auf die Beine gemacht, um zur Unfallstelle zu kommen und zu trauern. Am Abend meldete sich mein Freund aus München wieder. „Ich habe dich morgens im Bayerischen Rundfunk gehört“, sagte er. Wir schwiegen eine Weile. Dann fügte er hinzu: „Wir machen nie wieder solche Witze.“

Die Aufarbeitung des Schwebebahnunglücks beschäftigte die Menschen in Wuppertal noch Jahre. Die jahrzehntelang bewährte Schwebebahntechnik an sich war nicht das Problem. Schuld war die Nachlässigkeit einiger Arbeiter und einiger Verantwortlicher bei den Wuppertaler Stadtwerken. Das Kontrollsystem hatte versagt; nicht einmal eine Probefahrt war nach den Bauarbeiten vorgesehen. Strafrechtlich gab es nicht mehr als Bewährungsstrafen. Ins Gefängnis musste niemand.

Besuch im Schwebodrom lohnt sich

„Einmal im Leben durch Wuppertal schweben“, heißt ein alter Werbespruch der Stadt. Ich kann das jedem, der das tun will, trotzdem weiterhin guten Gewissens empfehlen. Am besten, man verbindet eine Fahrt mit einem Besuch im Zoo, einem der grünsten Deutschlands. Oder man besucht das Schwebodrom, ein eigenes Museum rund um die Bahn. Interessierte können dort unter anderem mit Virtual-Reality-Brillen in einem alten Wagen ins Jahr 1929 reisen.

Würde mein Vater noch leben – ich wäre mit ihm dort. Nach einer Fahrt mit den neuen blauen Wagen der Schwebebahn.

Das Schwebebahn-Unglück in Bildern

Am frühen Morgen des 12. April 1999 um 5.46 Uhr war der Frühzug der Schwebebahn in einem Baustellenabschnitt rund zehn Meter in die Tiefe gestürzt. Die Schwebebahn stürzte in die Wupper. Fünf Menschen kamen ums Leben, 47 wurden verletzt.
Am frühen Morgen des 12. April 1999 um 5.46 Uhr war der Frühzug der Schwebebahn in einem Baustellenabschnitt rund zehn Meter in die Tiefe gestürzt. Die Schwebebahn stürzte in die Wupper. Fünf Menschen kamen ums Leben, 47 wurden verletzt. © picture-alliance / dpa | Oliver Multhaup
Zum Zeitpunkt des Unfalls wurde ermittelt, ob ein Metallhaken mögliche Ursache des Unglücks gewesen sein soll.
Zum Zeitpunkt des Unfalls wurde ermittelt, ob ein Metallhaken mögliche Ursache des Unglücks gewesen sein soll. © picture-alliance / dpa | Franz Peter Tschauner
In Wuppertal-Elberfeld verunglückte der Zug der Schwebebahn, der auf eine Heizrohrbrücke aufschlug. Polizeitaucher suchten in dem abgestürzten Zug der Schwebebahn.
In Wuppertal-Elberfeld verunglückte der Zug der Schwebebahn, der auf eine Heizrohrbrücke aufschlug. Polizeitaucher suchten in dem abgestürzten Zug der Schwebebahn. © picture-alliance / dpa | Franz Peter Tschauner
16 Monate nach dem tödlichen Absturz der Wuppertaler Schwebebahn begann am Mittwoch (23.08.2000) der Prozess gegen acht Angeklagte. Den fünf Mitarbeitern einer Augsburger Stahlbaufirma und den drei Bediensteten der Wuppertaler Stadtwerke wurden fahrlässige Tötung sowie fahrlässige Körperverletzung vorgeworfen.
16 Monate nach dem tödlichen Absturz der Wuppertaler Schwebebahn begann am Mittwoch (23.08.2000) der Prozess gegen acht Angeklagte. Den fünf Mitarbeitern einer Augsburger Stahlbaufirma und den drei Bediensteten der Wuppertaler Stadtwerke wurden fahrlässige Tötung sowie fahrlässige Körperverletzung vorgeworfen. © picture-alliance / dpa | Franz Peter Tschauner
Sanitäter der Feuerwehr brachten einen Verletzten aus dem abgestürzten Zug der Wuppertaler Schwebebahn im Wuppertaler Stadtteil Elberfeld in einen Krankenwagen.
Sanitäter der Feuerwehr brachten einen Verletzten aus dem abgestürzten Zug der Wuppertaler Schwebebahn im Wuppertaler Stadtteil Elberfeld in einen Krankenwagen. © picture-alliance / dpa | Oliver Multhaup
Auf einer Trage wurde ein Verletzter an dem Montagmorgen des Unglückes in Wuppertal von Sanitätern abtransportiert.
Auf einer Trage wurde ein Verletzter an dem Montagmorgen des Unglückes in Wuppertal von Sanitätern abtransportiert. © picture-alliance / dpa | Franz Peter Tschauner
Abgeschirmt von Polizeibeamten wurde ebenfalls eine Leiche abtransportiert.
Abgeschirmt von Polizeibeamten wurde ebenfalls eine Leiche abtransportiert. © picture-alliance / dpa | Franz Peter Tschauner
Ein Blumenstrauß und Kerzen standen am Dienstagabend (13.04.1999) in Wuppertal auf einer Mauer vor der im Wasser liegenden Schwebebahn.
Ein Blumenstrauß und Kerzen standen am Dienstagabend (13.04.1999) in Wuppertal auf einer Mauer vor der im Wasser liegenden Schwebebahn. © picture-alliance / dpa | Franz Peter Tschauner
Mitarbeiter der Stadtwerke und der Staatsanwaltschaft begutachteten am Nachmittag die Stelle der Gleisanlage.
Mitarbeiter der Stadtwerke und der Staatsanwaltschaft begutachteten am Nachmittag die Stelle der Gleisanlage. © picture-alliance / dpa | Franz Peter Tschauner
Am 8. Juni 1999 begegnen sich erstmals wieder zwei Züge der Wuppertaler Schwebebahn über der Unglücksstelle vom 12. April 1999. Acht Wochen nachdem eine vollbesetzte Bahn in die Wupper gestürzt war, nahm Wuppertals wichtigstes Nahverkehrsmittel den planmäßigen Fahrbetrieb wieder auf.
Am 8. Juni 1999 begegnen sich erstmals wieder zwei Züge der Wuppertaler Schwebebahn über der Unglücksstelle vom 12. April 1999. Acht Wochen nachdem eine vollbesetzte Bahn in die Wupper gestürzt war, nahm Wuppertals wichtigstes Nahverkehrsmittel den planmäßigen Fahrbetrieb wieder auf. © picture-alliance / dpa | Bernd Thissen
Die erste Fahrt für den öffentlichen Fahrgastverkehr der Wuppertaler Schwebebahn am 1. März 1901 war 4,59 Kilometer lang: Von Kluse zum Zoologischen Garten.  1900 war schon Kaiser Wilhelm II mit seiner Gemahlin Auguste Viktoria und seinem Gefolge vom Döppersberg (Elberfeld Mitte) bis Vohwinkel gefahren. Das historische Archivfoto aus dem Jahr 1903 zeigt den Bahnhof Rathausbrücke.
Die erste Fahrt für den öffentlichen Fahrgastverkehr der Wuppertaler Schwebebahn am 1. März 1901 war 4,59 Kilometer lang: Von Kluse zum Zoologischen Garten. 1900 war schon Kaiser Wilhelm II mit seiner Gemahlin Auguste Viktoria und seinem Gefolge vom Döppersberg (Elberfeld Mitte) bis Vohwinkel gefahren. Das historische Archivfoto aus dem Jahr 1903 zeigt den Bahnhof Rathausbrücke. © picture alliance/dpa | Stadtwerke Wuppertal
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