Essen/Ruhrgebiet. Sechs Millionen Deutsche rufen jährlich den Rettungsdienst, und nicht immer sind sie in Not. Warum Retter das an ihre Grenzen bringt.
Sie kommen um zu helfen, 16.300 Mal am Tag. Doch nun rufen die Rettungsdienste selbst um Hilfe: Fast sechs Millionen Einsätze deutschlandweit im Jahr seien eine „chronische Überlastung“. In einer Studie vergleicht die Johanniter Unfallhilfe aktuelle Zahlen mit jenen von 2010: Damals riefen 3,4 Millionen Menschen die „112“. Zudem steckten hinter immer mehr dieser Notrufe immer weniger tatsächliche Notfälle. Das System bewege sich „auf einen Kipppunkt zu“, sagt Udo Schröder-Hörster vom Landesvorstand NRW. „Die Zeit für Reformen in der Notfallversorgung drängt.“
Was ist ein Krankenwagen? Johanniter Thorsten Strack in Essen stellt die Frage nicht, der Notfallsanitäter kennt die Antwort: „Für die meisten Menschen ist ein Krankenwagendas große Auto mit dem Blaulicht.“ Aber das stimmt nicht. Was die Leute vor sich sehen, ist ein Rettungswagen. Der RTW, der in lebensbedrohlichen Lagen kommt, dafür nicht länger braucht als acht Minuten und Notfälle ins Krankenhaus bringt. Alles andere ist ein Krankentransport. 33.000 Einsätze sind Essens Johanniter im vergangenen Jahr gefahren, „nur“ 7500 waren für den RTW. Nur: Viele kennen den Unterschied nicht.
„Ist das wirklich der Notfall, für den man mit Blaulicht durch die ganze Stadt fährt?“
Das, sind sich die Rettungsdienste sicher, ist einer der Gründe, warum sie oft vor derselben Situation stehen wie Notfallambulanzen im Krankenhaus: Die Bevölkerung, vielleicht auch, weil sie älter wird, fordert mehr; auch Kliniken klagen ja über Menschen, die „seit drei Wochen Rückenschmerzen haben, die nachts um halb vier auftauchen“, wie Strack es erlebt. „Ist das wirklich der Notfall, für den man mit Blaulicht durch die ganze Stadt fährt?“ Kollegen erzählen von fiebrigen Infekten oder kleinen Verletzungen, die Patienten zum Hörer greifen lassen. Auch Strack hat schon mitgemacht, dass er jemanden in die Notaufnahme fuhr, den drei Stunden später andere Johanniter wieder nach Hause brachten.
„Fehleinsätze“ nennen sie solche eiligen Fahrten zu Patienten, die ihre Hilfe gar nicht zwingend brauchen und schon gar keine Fahrt ins Krankenhaus. Denn die werden in vielen Kommunen nicht vergütet, bezahlt werden dort nur die tatsächlichen Transporte. Hinzu kommt, dass sich die Bedarfspläne für das Personal noch immer orientieren an mehr als zehn Jahre alten Zahlen. Viele Rettungsdienste können bis heute nicht mehr Mitarbeitende einstellen oder ausbilden als zu Zeiten, als das Einsatzaufkommen noch um 75 Prozent niedriger lag, heißt es bei den Johannitern in Essen.
Notfallsanitäter: „Das macht man nicht bis zur Rente“
Gerechnet werde, als ob jeder „Sani“ ein Berufsleben lang einer bleibt. Aber: Eine Großstadtwache wie die in Essen sei „stark belastet“ mit vielen Einsätzen in kurzer Zeit, erzählt Thorsten Strack. Mit körperlich anstrengenden, bei den auch mal ein schwerer Patient aus der dritten Etage getragen werden müsse. Mit seelisch fordernden, für die die Johanniter mehr Supervision fordern. „Das macht man nicht bis zur Rente“, ahnt der 46-Jährige. Tatsächlich ergab die Studie, dass viele Einsatzkräfte nur sieben bis zehn Jahre im Beruf bleiben.
Die Hilfsorganisationen kostet die Ausbildung zum Notfallsanitäter indes rund 100.000 Euro. Geld, das die Träger gemeinsam mit den Krankenkassen aufbringen müssen. Im Berufsbildungsgesetz nämlich steht die Lehre bislang nicht, dabei ist der Rettungsdienst eine staatliche Aufgabe. In Essen fahren Johanniter, Malteser oder Rotes Kreuz im Auftrag der Feuerwehr. Aber auch dadurch, dass nach einem Gesetz von 2014 der „alte“ Rettungsassistent bald wegfällt, entstehe, ahnt Strack, alsbald eine Lücke. Die Kollegen mit einer nur einjährigen Ausbildung dürften absehbar „allenfalls noch den Wagen fahren“. Zum „neuen“ Notfallsanitäter werde nicht genug ausgebildet.
Rettungskräfte: „Wir werden gerufen, wir helfen, und alle sind glücklich“
Dabei fehlt es nicht an Interessenten: „Mangel an Menschen haben wir nicht“, sagt Thorsten Strack, und das gilt für ganz NRW. Für ausgeschriebene Stellen stehen oft Hunderte Bewerber Schlange, der Job ist beliebt. Das „Teamwork“ lobt Thorsten Strack, der schon 25 Jahre mit Herzblut dabei ist, den „Spaß“ daran, Menschen zu helfen. Notfallsanitäter seien „die Stufe vor dem ärztlichen Personal. Wir sind das letzte Mittel der Wahl und mega-wichtig“, davon ist Strack überzeugt – „nach uns kommt nichts mehr“. Patienten sind für ihn „eigentlich Kunden, die eine Dienstleistung bestellen: Wir werden gerufen, wir helfen, und alle sind glücklich.“ Wie in jenen beiden Fällen, als er half, ein Kind zur Welt zu bringen. Und wie neulich bei einer älteren Dame: Die brachte einen Obstkorb und Schokolade, zwei Wochen, nachdem er sie als Notfall ins Krankenhaus gefahren hatte – und sie kam zu Fuß! „Das ,Danke‘“, sagt Strack, „bleibt in Erinnerung.“
Dass Menschen den Rettungsdienst alarmieren, ohne wirklich in Not zu sein, macht er keinem zum Vorwurf. „Derjenige, der anruft, hat ein Problem. Und natürlich helfen wir.“ Auch Marc Zellerhof, Notarzt aus Neuss, weiß, dass Menschen, die 112 wählen, in einer Not-Situation sind. „Der Patient definiert eine Frage, wir müssen die Antworten geben.“ Auch das aber, finden die Rettungskräfte, laufe in NRW nicht rund, man müsse, sagt Zellerhof, „die nicht lebenskritischen Notfällebesser lenken“. Allerdings seien Einsatzleitstellen nicht gut abgestimmt. Durch fehlende Digitalisierung könnten Patientenanfragen nicht weitergeben und koordiniert werden. Die ärztliche Notnummer 116 117 sei oft schlecht zu erreichen. Was der Notfallsanitäter ohne einen Arzt machen darf, ist von Ort zu Ort in 53 Städten und Kreisen in NRW unterschiedlich geregelt. Bei welchem Problem soll man da anfangen? „Aus Liebe zum Leben“ steht als Motto über der Arbeit der Johanniter, aber der Beziehungsstatus ist kompliziert.
Noch, sagt Thorsten Strack, seien er und seine Johanniter „noch nicht so weit, dass wir unsere Aufgaben nicht mehr erfüllen könnten“. Derzeit funktioniere das System, „aber wenn man nichts tut, wird es dünn. Dann wird es kollabieren“. Man müsse schnell handeln, fordert auch Udo Schröder-Hörster vom Landesvorstand. Viele Themen, zu denen die Unfallhilfe in ihrer Studie viele Einsatzkräfte und auch Entscheidungsträger befragt hat, sind in der Politik bereits in Arbeit. Eine Novelle des Rettungsgesetzessoll in NRW noch in diesem Jahr verabschiedet werden.