Wuppertal. Das Gesicht ja, die Frisur nicht: Im Prozess trifft Bernhard Günther einen mutmaßlichen Täter wieder. Aber wer war der Auftraggeber?

Erkennt er ihn, oder erkennt er ihn nicht? Fast sechs Jahre nach dem Attentat auf Bernhard Günther traf der Energie-Manager am Donnerstag erstmals einen der mutmaßlichen Täter wieder. Vor dem Landgericht Wuppertal ist nach einer ersten Verurteilung ein zweiter Mann angeklagt, dem damaligen Innogy-Finanzvorstand im März 2018 in Haan Säure ins Gesicht geschüttet, das Opfer für immer entstellt zu haben. Diesen 36-Jährigen will Günther nicht lange nach der Tat schon einmal auf einem Foto wiedererkannt haben. Identifiziert er ihn auch diesmal?

Bernhard Günther sieht ihn zunächst nicht an. Wendet die Augen ab, als der Angeklagte den Saal betritt, das Gesicht ohnehin verdeckt durch einen Briefumschlag vom Gericht. Sieht direkt zum Vorsitzenden Richter, gibt seine Personalien an: Alter 57, Beruf Volkswirt. Erst auf die übliche Frage, ob er verwandt sei mit dem Mann gegenüber, wirft er einen kurzen Blick. Nein.

Zeigt den Kameras sein Gesicht nicht: der Angeklagte am Donnerstag vor dem Wuppertaler Landgericht.
Zeigt den Kameras sein Gesicht nicht: der Angeklagte am Donnerstag vor dem Wuppertaler Landgericht. © dpa | Henning Kaiser

Auf Fotos von Privatermittlern erkannte das Opfer einen Täter wieder

Es war Strategie und wohl auch etwas Selbstschutz, dass der Nebenkläger diesmal nicht zu jedem Prozesstag erscheint, sondern erst an diesem Donnerstag, da er selbst als Zeuge aussagen soll. Noch einmal soll nicht passieren, dass der heute Angeklagte freigelassen werden muss: Damals hatten Privatdetektive den Fall übernommen, nachdem die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen eingestellt hatte. Ein Informant präsentierte gegen eine sechsstellige Belohnung Fotos und Namen des heute 36-Jährigen. Da es keine polizeiliche Gegenüberstellung gab, hielten die Ankläger das für nicht verwertbar. Verurteilt zu zwölf Jahren Haft wurde später nur ein Mittäter.

Am Donnerstag wiederholt Günther, es habe bei Ansicht der Bilder „Klick gemacht“, spricht von einem „Aha-Effekt“: Der Mann vor dem Louvre in Paris, in einer Kneipe, auf dem Mannschaftsfoto, war er sich im Dezember 2018 sicher, war derselbe, der sich ihm am Tattag entgegengestellt hatte, der ihn „sanft zu Boden gebracht“ hatte, wie es Kampfsportler tun: Der Angeklagte, dem auch Verbindungen zur Rockerszene nachgesagt werden, ist Ringer.

Günther als Zeuge: „Meine Erinnerung ist völlig klar“

Er habe dieser „Person 2“, sagt Bernhard Günther, direkt ins Gesicht schauen können, man sei für Sekunden nur 40 Zentimeter auseinander gewesen. Glatt rasiert, kräftig, osteuropäisches Aussehen, hohe Wangenknochen: Das Bild habe sich „gut eingeprägt,“ besonders die gepflegte Erscheinung. Das Opfer gibt zu, es habe mit einem anderen Aussehen gerechnet“, aber da war dieser Seitenscheitel, „wie eine Föhnwelle“. Seine Erinnerung, betont Günther, sei „völlig klar“.

Bernhard Günther im Zeugenstand, hier mit seinem Rechtsanwalt Martin Meinberg aus Gelsenkirchen.
Bernhard Günther im Zeugenstand, hier mit seinem Rechtsanwalt Martin Meinberg aus Gelsenkirchen. © dpa | Henning Kaiser

Nur sitzt da nun dieser Serbe, der im Mai 2023 in Dortmund erneut festgenommen worden war: mit kurz geschorenem Haar. Zwei Stunden befragt der Vorsitzende den Zeugen nach dessen Erinnerungen an die Fotos, bis er ihn direkt fragt: „Erkennen Sie den Angeklagten wieder?“ Günther sieht erneut kurz hin, zögert kurz und sagt: „Die Frisur ist anders. Die Wangenknochen, die Augenpartie passen.“ Er nickt, aber es ist noch kein klares Ja. Kein „Das ist er“.

Belgier bereits zu zwölf Jahren Haft verurteilt

Nun geht es in diesem Prozess darum, genau das festzustellen: War dieser 36-Jährige beim Anschlag der zweite Mann? Günther indes will mehr, er will die Täter kennen, aber auch die Mittelsmänner und vor allem: den oder die Auftraggeber. Dass es solche gibt, das ist auch für Richter und Ermittler schon lange mehr als eine Hypothese. Ein Zeuge hatte sie zudem in der vergangenen Woche untermauert: Der wegen Betrugs einsitzende Mann soll in der Haft den bereits verurteilten Belgier kennen gelernt haben. Der habe ihm die Tatbeteiligung des nun Angeklagten verraten, dazu die Verwicklung mehrerer Rocker – und auch die Drahtzieher beim Namen genannt. Die aber wollte der Zeuge plötzlich nicht mehr verraten: Er und seine Frau seien bedroht worden, angeblich vom Angeklagten – der im selben Gefängnis untergebracht ist.

So haben wir bisher über die Prozesse berichtet:

Ärzte haben „keine Hoffnung, dass man noch mehr machen kann“

Die Verteidiger jedenfalls haben viele Fragen. An den neuen Zeugen, der deshalb noch einmal wiederkommen muss, und an Bernhard Günther. Der berichtet der 3. Großen Strafkammer auch erneut von den Folgen, die das Attentat für ihn hatte: „In 90 Prozent aller Nächte bin ich gesund, in meinen Träumen.“ Aber an jedem Morgen sei sein erster Gedanke: „Scheiße, es ist etwas anders.“

Das ist eine ungewöhnlich deutliche Ausdrucksweise für diesen Mann, der so strukturiert, so eloquent, so klug auf alle noch so schwierigen Fragen antwortet. Wenn Günther die Augen öffnet, „ist da der Schmerz“. Hätte er damals „die Säure nicht abgewaschen, wäre von meinem Gesicht nichts übriggeblieben“. So oft ist er seit jenem Märztag 2018 operiert worden, Haut transplantiert, Narben mussten wieder aufgeschnitten werden. Um die Lider wieder schließen, den Kopf ein wenig mehr drehen zu können. Mehr, sagt der Familienvater auf Nachfrage, sei wohl unmöglich: Der medizinische „Endstand“ sei erreicht, die Ärzte machten ihm „keine Hoffnung, dass man noch viel mehr machen kann“.

Seine Sicht ist nach wie vor getrübt, „als wenn man leicht weint“; in einem Auge habe er ständig ein „Fremdkörpergefühl, wie Sand im Auge“. Beide Augen seien empfindlich, begännen schnell zu tränen – man sieht den sonst so kontrollierten Mann mit dem stark vernarbten Gesicht immerzu zwinkern. Immerhin, es ist gelungen, sein Augenlicht zu retten.

Viele Fragen: Die Verteidiger des Angeklagten (hinten), Wolf Bonn und Urban Slamal (v.l.).
Viele Fragen: Die Verteidiger des Angeklagten (hinten), Wolf Bonn und Urban Slamal (v.l.). © dpa | Henning Kaiser

Günthers Familie hat keine Angst mehr: „Das Motiv ist weg“

Denn darum soll es den Tätern oder besser: ihren Auftraggebern gegangen sein. Nicht darum, ihn umzubringen, sondern so zu verletzen, dass er als beruflicher Konkurrent ausfiel. „Karrieretötung“, sagt Günther. Inzwischen aber, und das ist für den 57-Jährigen ein Trost, „hat keiner mehr etwas davon, mich aus dem Job zu entfernen“. Dass er inzwischen im Ausland zu arbeitet, gibt Günther „ein subjektiv höheres Sicherheitsgefühl“. Lange habe er Angst um sich und seine Familie gehabt, Jahre zuvor hatte es schon einmal einen Überfall auf ihn gegeben. „Die Bedrohungslage war unklar.“ Das habe sich durch seinen Weggang verändert: „Das Motiv ist weg.“

>>INFO: DER ANSCHLAG AUF BERNHARD GÜNTHER
Der Anschlag auf Bernhard Günther war im März 2018 verübt worden: Zwei Männer lauerten dem Manager, der vom sonntäglichen Joggen zurückkehrte, in der Nähe seines Privathauses in Haan bei Düsseldorf auf und übergossen ihn mit hochkonzentrierter Schwefelsäure. Ein Täter mit belgischem Pass wurde dafür im Sommer 2022 zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden.

Günther wurde damals schwer verletzt, Mediziner in Duisburg kämpften um sein Augenlicht, das Opfer selbst spricht immer wieder von „Todesangst“. Der Manager, heute zudem Aufsichtsrat bei Thyssenkrupp, war damals Finanzchef des Energiekonzerns Innogy, der wenige Tage später zerschlagen wurde. Inzwischen arbeitet er für das finnische Unternehmen Fortum.