Kuckum. 500 Menschen lebten einst in Kuckum am Braunkohlekrater Garzweiler. Seit der Rettung des Dorfs sind nur wenige zurückgekommen. Warum?
Jede Nacht ist stille Nacht, egal ob vor oder nach den Weihnachtstagen. Und auch tagsüber ist es kaum lauter. Im trüben Licht des Nachmittags wirkt Kuckum, als ob das Dorf schläft. Rollläden sind geschlossen, die Straßen verlassen und menschenleer. Nur am Morgen und Mittag hört man Stimmen von Jungen und Mädchen in der Nachbarschaft. 200 Flüchtlinge aus der Ukraine sind in leerstehenden Häuser untergekommen. „Endlich wieder Kinderlachen“, sagt Marita Dresen während sie vom Küchenfenster im ersten Stock ihres Hauses aus dem Fenster blickt. „Sonst ist ja kaum noch jemand hier.
Wo einst rund 500 Menschen lebten, „sind wir jetzt vielleicht noch 30“. Die anderen sind weggezogen, weil Kuckum und die Nachbardörfer Keyenberg, Berverath, Ober- und Unterwestrich bis zum letzten Jahr keine Zukunft mehr hatten. Einem riesigen Loch sollten sie weichen, einem Braunkohlekrater mit Namen Garzweiler II.
Dresen hat alle Angebote von RWE für ihr Haus ausgeschlagen. Großes Haus mit 15.000 Quadratmeter Grundstück für ihre Pferdezucht – so etwas gibt es in Kuckum neu nicht. Sie solle sich mal an ihr Alter denken, lautet der Rat der Männer, die RWE vorbeigeschickt hatte, an die 57-Jährige. Da sei es doch fast ein Segen, sich kleiner zu setzen. Und die Pferde? Nein, heißt es, „Hobby-Tierhaltung“, werde natürlich nicht unterstützt. „Ich war unglaublich sauer.“
Dann hätten die Proteste der Aktivisten ihr Mut gemacht, erzählt Dresen. In ihrem Garten hat sie sie kochen lassen, hat sie auch mal schlafen lassen im Wohnzimmer, wenn das Wetter schlecht oder der Platz knapp war. „Sie haben in mir die Hoffnung geweckt, dass die Dörfer vielleicht doch bleiben“, sagt Dresen. Im Oktober 2022 wird diese Hoffnung erfüllt. Da entscheidet RWE, die Kohlevorkommen unter dem Ort nicht zu erschließen. Wer noch vor Ort lebt, kann nun bleiben. Wer gegangen ist, darf zurück. Wenn er will. Wie viele das wollen und finanziell können, ist unklar. Es gibt auch Umgesiedelte, die es lieber hätten, wenn ihr altes Heim abgerissen würde. „Damit wir endlich mit der Vergangeheit abschließen können.“
Vorkaufsrecht für ehemalige Bewohner
Ehemalige Bewohner oder deren Kinder sollen laut Ankündigung in der Leitentscheidung des NRW-Wirtschaftsministeriums jedenfalls ein Vorkaufsrecht für ihre alten Häuser erhalten. Kurz haben sie da aufgeatmet rund um den Tagebau nach dieser „Leitentscheidung“. Aber längst ist aus Erleichterung Ernüchterung geworden.
„Der Kampf“, hat Dresen festgestellt, „ist noch immer nicht vorbei.“ Er ist nur anders geworden. Nun geht es darum, dass wieder Leben einkehrt in ihr Dorf. Und darum, dass sie mitentscheiden dürfen, wie dieses Leben wird. „Wir haben aber das Gefühl, dass die Stadt das Zepter nicht aus der Hand geben will und eigene Vorstellungen davon hat, was aus den Dörfern werden soll.“ Möglichst schnell neue Eigentümer für die leerstehenden Häuser zu finden, fürchtet Dresen, sei dabei kein Thema.
Obwohl das ihrer Einschätzung nach gar kein Problem wäre. Keine sechs Monate, und alle leerstehenden Häuser wären verkauft, ist Dresen überzeugt. „Was glauben Sie, was an den Wochenenden hier los ist?“ Dann spazieren Dutzende junge Familien oder Paare durch das Dorf, schauen auf und in die Häuser. „An wen müssen wir uns wenden, um das zu kaufen“, fragen sie dann. Lieber heute als morgen. Für Dresen nur verständlich. „Köln, Düsseldorf, Aachen, alles nur einen Katzensprung entfernt und in einer halben Stunde sind sie auch in Holland.“ Und noch sind die meisten Häuser in gutem Zustand. „In der Stadt kann man Vergleichbares doch gar nicht mehr bezahlen.“ Außerdem, sagt Dresen, fehle doch überall Wohnraum. „Aber hier passiert nichts. Die Häuser werden nicht zum Verkauf freigegeben. Ich verstehe nicht, was an der ganzen Sache so schwierig ist.“
„Es laufen noch Abstimmungsgespräche“
Die Leitentscheidung habe „viele Fragen beim Thema Vorkaufsoption für ehemalige Eigentümer und Eigentümerinnen mit Umsiedlerstatus und deren Kindern offengelassen“, heißt es auf Anfrage bei der Stadt Erkelenz, zu der die Dörfer gehören. „Es laufen noch Abstimmungsgespräche zwischen der Stadtverwaltung und den beiden Handlungsführern, dem Land NRW und der RWE Power AG“, eine Sprecherin der Stadt. Im Frühjahr 2024 werde des „genauere Informationen zum Ablauf und den kommenden Schritten“ in Erkelenz geben.
Andernorts ist man bereits ein Stück weiter. Die Gemeinde Merzenich hat Anfang Dezember mit der Landesregierung NRW und der RWE Power AG eine Vereinbarung geschlossen, um das Dorf Morschenich-Alt, das der Braunkohle ebenfalls nicht mehr weichen muss, zurückzukaufen und unter dem Namen „Bürgewald“ wieder mit Leben zu füllen. Von „Zukunftsdörfern“ ist viel die Rede rund um Kuckum und von einer Tausende-Hektar großen Seenlandschaft in dem gigantischen Loch, das die Braunkohleförderung hinterlassen hat. Gefüllt werden soll es vor allem mit Wasser aus dem Rhein. Füllzeit: Rund 40 Jahre – optimistisch geschätzt.
Nicht nur deshalb winkt Oliver Kanneberg auch ab. Es dämmert bereits an diesem Tag, als der 57-Jährige vor seinem ehemaligen Haus steht. 130 Quadratmeter Wohnfläche, großer Garten. Beides darf er nicht mehr betreten. „Das wäre Hausfriedensbruch.“ 1999 hat er das Haus gekauft. Natürlich weiß er da schon, was Kuckum droht. Alle wissen das. Aber Kanneberg setzt darauf, „dass RWE energiepolitisch zur Vernunft kommt“. Doch als die Kohlekommission das Jahr 2038 für das Ende des Kohleabbaus empfiehlt, gibt er nach jahrelangem Kampf auf. Als sie zum letzten Mal abschließen, muss seine Frau den Schlüssel an den RWE-Vertreter abgeben. „Das hätte ich nicht geschafft.“
So viele Erinnerungen stecken in den vier Wänden. „Unsere Tochter ist hier geboren und aufgewachsen. Wir haben hier die wichtigsten Jahre unseres Lebens verbracht. Natürlich möchte ich das Haus zurückhaben.“ Ob er es wirklich kriegt? Kanneberg ist skeptisch. Nichts Genaues hört man nicht und was man hört, macht wenig Mut. Gerüchte gibt es, dass die Städte die von RWE zurück gekauften Grundstücke und Häuser anschließend nur in Erbpacht für zehn bis 20 Jahre abgeben wollen. „Wer kauft denn auf so einem Grundstück ein Haus?“, fragt er und antwortet gleich selbst. „Niemand“.
Es gibt viele Gerüchte: Verzögert die Politik einen möglichen Verkauf?
Gerüchte, wie gesagt, aber Kannenberg hält das durchaus für vorstellbar. Die meisten Grundstücke in den Dörfern seien so groß, dass man daraus problemlos mehrere Bauparzellen machen könne. „Die Häuser, die da jetzt stehen, stören nur“, glaubt er. Deshalb verzögere die Politik einen möglichen Verkauf, bis die teils seit Jahren leerstehenden Gebäude nicht mehr saniert werden könnten und abgerissen werden müssten. „Mit freien Grundstücken lässt sich natürlich irgendwann viel mehr Geld verdienen.“
Natürlich stirbt auch bei Kanneberg die Hoffnung zuletzt. Die Zeit aber drängt. Er weiß nicht, wie es in seinem Haus aussieht, er sieht aber den Zustand von außen. „Maximal zwei Winter noch“, ist er überzeugt, „dann ist hier nichts mehr zu retten.“