Essen. Marc Franke schreibt Medizingeschichte: Der Münsterländer gilt als weltweit dritter Patient, der von HIV geheilt wurde. Das weckt Hoffnungen.
- Seit mehr als 30 Jahren findet am 1. Dezember der Welt-Aids-Tag statt. An diesem Tag sollen die Rechte von HIV-positiven Menschen im Fokus stehen. „Menschen mit HIV oder Aids sind leider immer noch viel zu oft Diskriminierung ausgesetzt. Ursache sind häufig Vorurteile und Unwissenheit“, sagte NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) vor diesem Hintergrund.
- Schätzungsweise 1900 Menschen in Deutschland haben sich laut Robert-Koch-Institut im vergangenen Jahr mit HIV infiziert. Für 2021 gehen die Experten von 1800 HIV-Neuinfektionen aus.
- Trotz guter Behandlungsmethoden, die HIV-Patienten ein normales Leben ermöglichen, gibt es bislang kein Allheilmittel gegen das Virus. Im Jahr 2022 sind in Nordrhein-Westfalen 60 Menschen an den Folgen einer HIV-Infektion gestorben. Vor zehn Jahren gab es noch 108 Tote.
Als Marc Franke die Krebsdiagnose bekommen hat, war das nicht nur ein Schock. So abwegig es klingen mag: Franke sagt, er sei ein Stück weit froh gewesen.
„Die Leukämie war eine Krankheit, über die ich endlich sprechen konnte. Die Menschen fühlen mit einem“, meint der 54-Jährige. Das sei für ihn etwas Heilsames gewesen. Denn über eine andere Erkrankung hatte er lange Zeit aus Angst vor Ausgrenzung und Vorurteilen geschwiegen: 2008 war bei ihm eine frische HIV-Infektion festgestellt worden.
Dass der Münsterländer heute von beidem erzählen kann, das ist ein außergewöhnliches Kapitel in der Medizingeschichte. An der Universitätsklinik Düsseldorf hat er nicht nur die Leukämie bekämpft. Marc Franke gilt weltweit als der dritte Patient, der vom HI-Virus geheilt werden konnte. Frankes Geschichte gibt HI-Infizierten überall auf der Welt Hoffnung - und liefert doch noch kein Allheilmittel gegen das Virus.
Vor dem Welt-Aids-Tag: Düsseldorfer Forscher werden für HIV-Heilung ausgezeichnet
Es ist ein kalter Dienstagnachmittag, als die Regionalbahn am Essener Hbf die Türen öffnet und mehrere Dutzend Menschen auf den Bahnsteig entlässt. Marc Franke hat die schwarze Wollmütze tief über die Stirn gezogen, der Blick hinter dem dicken schwarzen Brillenrand ist unruhig. Ohne lange für eine Begrüßung innezuhalten, geht er mit seinem kleinen Metallrollkoffer voran auf dem Weg zum Gleis sechs.
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An diesem Nachmittag fährt Franke nach Berlin zur Preisverleihung der Deutschen Hochschulmedizin. Kurz vor dem Welt-Aids-Tag am 1. Dezember wird dort das Forscherteam rund um die Universitätsklinik Düsseldorf ausgezeichnet, das Franke über ein Jahrzehnt lang behandelt hat. „Ich bekomme da natürlich keinen Preis, aber anderseits gäbe es den ohne mich ja auch nicht“, sagt er und zeigt ein ansteckendes Grinsen.
Unter seiner Winterjacke blitzt eine Aids-Schleife aus rotem Strass auf. Franke versteht sich inzwischen als Botschafter, ist auf internationalen Kongressen zu Gast und klärt wo immer möglich über HIV auf. „Ich wünschte mir, dass wir offen über HIV sprechen könnten. Es gibt viele Vorurteile und Halbwissen in der Gesellschaft.“ Er habe es leicht, darüber heute angstfrei zu sprechen, sagt er. „Ich bin geheilt.“ Fast vergisst man einen Moment lang, was er dafür alles ertragen hat.
Die Stammzellenspende sollte zwei Krankheiten heilen
Ein Freund hatte ihn im Januar 2011 in die Düsseldorfer Uniklinik gefahren. Der Verdacht: Lungenentzündung. So war es dann auch, aber hinzukam die Diagnose einer besonders aggressiven Form der Leukämie. Kaum hatte Franke die Lungenentzündung bekämpft, begann er die Chemotherapie. Vergeblich: Ein Jahr später kam die Leukämie zurück. Frankes einzige Chance war jetzt eine Stammzellentransplantation. Über die Deutsche Knochenmarkspenderdatei (DKMS) fanden sich fünf potenzielle Spender.
An dieser Stelle entstand bei Marc Franke und seinen behandelnden Ärzten Prof. Guido Kobbe und Dr. Björn Jensen, Oberärzte an den beiden Kliniken für Onkologie und Infektiologie des Universitätsklinikums Düsseldorf, jene außergewöhnliche Idee, die ihn heute zu einer kleinen Berühmtheit macht: Da sie zu dem riskanten Verfahren einer Stammzellentransplantation so oder so gezwungen waren, wollten sie versuchen, mit der Leukämie auch das HI-Virus zu heilen.
Das war kurz zuvor erstmals an der Berliner Charité gelungen. Dort wie nun in Düsseldorf wurden die potenziellen Stammzellen-Spender auf eine seltene Genvariante untersucht. Nur etwa ein Prozent der ethnisch mittel- und nordeuropäischen Bevölkerung trage diese Variante, durch die das HI-Virus vereinfacht gesagt nicht in die Zellen eindringen kann, erklärt Jensen. Diese Menschen sind also immun.
Und tatsächlich: Eine potenzielle Spenderin trug diese Mutation. Die Hoffnung war: Mit ihren Stammzellen konnte das HI-Virus in Frankes Blut bekämpft werden.
Zwei Beutel voller Leben: Nach der Transplantation gab es Rückschläge und einen Erfolg
Zwei Beutel an einem Infusionsständer zeigt Marc Franke auf einem Bild von Februar 2013: „The Transplant“ - das Transplantat - heißt das Dokument. Zwei Beutel voller Leben.
Zunächst war es ein Überlebenskampf: Es gab Rückschläge und Folgeerkrankungen. Frankes Weg zur Heilung war ein steiniger, die Chancen standen oft gegen ihn. Erst 2015 konnten die Ärzte das HI-Virus in den Blick nehmen. In unzähligen äußerst sensiblen Tests und mit einem gewaltigen logistischen Aufwand untersuchten Jensen und Kobbe zusammen mit einem Netzwerk aus 18 Institutionen in sechs Ländern immer wieder Blut- und Gewebeproben ihres Patienten. War das Virus aus seinem Blut verschwunden?
„Das war superemotional. Wir haben die Proben wie Juwelen gehütet“, sagt Jensen heute. Erst als sich alle Forschenden einig waren, setzte Franke 2018 das Medikament ab, das er bislang zur Unterdrückung seiner HIV-Infektion bekommen hatte. Bis heute wird sein Blut kontrolliert. Das Virus kam nicht zurück, Franke gilt als geheilt. Und da lacht Jensen erstmals im Telefonat auf.
Fachmann: „Kein Konzept, um weltweit HIV zu heilen, aber ein Puzzleteil“
Und dennoch: Das sei kein Konzept, um HIV weltweit zu heilen, betont Jensen. Dieser Weg sei mit enormen Risiken behaftet gewesen und wäre ohne die Leukämie nie beschritten worden. „Aber wir lernen aus Fällen wie diesem vieles darüber, welche Schwächen das HI-Virus hat und wenn man die verschiedenen Ansätze wie Puzzleteile kombiniert, schaffen wir es vielleicht in Jahren oder auch Jahrzehnten zu einer Heilung kommen.“ Inzwischen gebe es weitere Patienten, die auf ähnlichem Weg behandelt worden sind.
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Wie groß die Hoffnung ist, spürt Jensen immer wieder: Seit der Düsseldorfer Oberarzt mit seinem Kollegen Guido Kobbe Anfang 2023 die HIV-Heilung ihres Patienten öffentlich gemacht hat, erhalte er Post aus Afrika und Südamerika. Betroffene wollten jedes Risiko in Kauf nehmen, wenn er sie nur heile, erzählt Jensen. „Da merkt man auch, welchen Druck diese Menschen haben, dass sie trotz der guten Therapiemöglichkeiten das Risiko in Kauf nehmen wollen, bei so einer Behandlung zu sterben“, sagt Jensen, der sich auch im Vorstand der Deutschen Aids-Gesellschaft engagiert.
Düsseldorfer Infektiologe: HIV-positive Frauen bekommen gesunde Babys
Er beobachtet, dass es viele irrationale Ängste in Bezug auf HIV-Patienten gebe. Jensen betont: „Wenn das HI-Virus nicht erkannt und nicht behandelt wird, ist es immer noch eine tödliche Erkrankung. Deshalb ist es so wichtig, dass man sich kostenfrei testen kann.“
Denn bei einer frühen Diagnose können Patienten so gut medikamentös eingestellt werden, dass das Virus unterdrückt werde und nicht mehr übertragbar sei. HIV-positive Frauen bekommen heute gesunde Babys. „Unterschwellig wirft man den Menschen aber vor, sie seien selbst schuld an der Infektion. Das führt zu Scham und Selbstausgrenzung. Es ist nicht das HI-Virus, sondern dieses Verhalten, dass die Lebensqualität der Betroffenen beeinträchtigt“, so Jensen.
Die Liebe beflügelte in der Krankheit: „Ich wollte mit meinem Mann eine Zukunft haben“
Dass Marc Franke sich durch all die Jahre gekämpft hat und am Ende, an diesem kalten Dienstagnachmittag, in den Zug nach Berlin steigen kann, das liegt wohl vor allem an einem Menschen, der anders gehandelt hat: 2011, als der Diplomingenieur vor seiner ersten Chemotherapie stand, surfte er auf einem Dating-Portal und lernte einen Lehrer für Sonderpädagogik aus Düsseldorf kennen. Die ersten Dates fanden im Krankenhaus statt. Heute sind Marc Franke und Ingo Sträter miteinander verheiratet.
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„Unsere Liebe hat mich in all der Zeit beflügelt. Ich wollte mit diesem Mann eine Zukunft haben“, sagt Franke. „Ich bin so stolz auf meinen Ingo, dass dieser Mann trotz der beiden Krankheiten gesagt hat, dass er mich kennen lernen will.“