Düsseldorf. Die Maßnahmen des Bundes und des Landes NRW gegen Lieferengpässe bei Arzneien verpuffen. Die Lage wird sogar noch schlimmer.

  • Wieder werden die Medikamente in NRW und in ganz Deutschland knapp, dabei beginnt die kalte Jahreszeit und damit die Infekt-Saison gerade erst.
  • Der Apothekerverband Nordrhein warnt: Die Lieferengpässe bei Arzneien seien jetzt größer als je zuvor.
  • Die Maßnahmen der Bundesregierung gegen den Medikamentenmangel scheinen zu verpuffen.

Im vergangenen Winter war der Mangel an Arzneien ein großes Problem in Nordrhein-Westfalen. Es scheint sich 2023 nicht nur zu wiederholen, sondern zuzuspitzen.

Wie ist die Versorgungslage?

Nach Einschätzung von Thomas Preis, Vorsitzender des Apothekerverbandes Nordrhein, ist sie sehr ernst: „Wir gehen leider in diesem Jahr so schlecht in den Winter wie noch nie. Gegenüber dem Vorjahr haben sich die Lieferengpässe um mehr als 30 Prozent erhöht.“

Aktuell gebe es offiziell Lieferprobleme bei 520 Medikamenten, tatsächlich sei diese Zahl aber um ein Vielfaches höher, so Preis. Jedes zweite Rezept sei den Engpässen betroffen: „Das heißt, dass in Deutschland jeden Tag etwa 1,5 Millionen Menschen diese Probleme haben.“

Wichtiger Hinweis: Einen aktuellen Überblick über Lieferengpass-Meldungen finden Sie hier online auf den Seiten des Bundesinstitutes für Arzneimittel- und Medizinprodukte.

Welche Medikamente fehlen?

Der Mangel betreffe praktisch alle Medikamentenarten, erklärt der Apothekerverband Nordrhein. „Große Sorgen macht uns der Mangel bei den Antibiotika, insbesondere bei Antibiotika-Säften für Kinder“, sagt Preis. Erschwert sei zum Beispiel auch die Versorgung von Diabetikern mit Insulin und Medikamenten. Die Apotheken arbeiteten am Limit. Dennoch könnten sie bisher sicherstellen, dass aus den Liefer- keine Versorgungsengpässe werden.

Der Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe, Dr. Hans-Albert Gehle, erneuerte gegenüber dieser Redaktion angesichts der anhaltenden Krise seinen Appell: „Es kann nicht sein, dass fiebersenkende Medikamente für Kinder, Asthmasprays, Blutdrucksenker, Antibiotika oder Medikamente gegen Brustkrebs nicht lieferbar oder nur schwer erhältlich sind. Solche alltäglichen Medikamente müssen stets vorrätig sein.“

Was bedeutet der Medizin-Mangel für Kinder und Jugendliche?

„Wir starten in die Infekt-Saison, und der Arzneimittel-Mangel ist im Moment nicht größer als in den vergangenen Monaten. Der große Mangel kommt erst noch auf uns zu, voraussichtlich ab Januar“, warnt Dr. Axel Gerschlauer, Sprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte Nordrhein.

Was raten Experten den Bürgerinnen und Bürgern?

„Wer dauerhaft auf Medikamente angewiesen ist, der sollte nicht bis zur letzten Tablette warten. Besorgen Sie sich rechtzeitig ein neues Rezept, und lösen Sie es schnell in der Apotheke ein“, rät Thomas Preis. Kinderarzt Gerschlauer empfiehlt betroffenen Familien, sich bei der Politik zu beschweren, denn die habe bei der Arzneimittelversorgung versagt: „Schreibt an eure Landtags- und Bundestagsabgeordneten.“

Wie versuchen Bund und Länder die Versorgungslage zu verbessern?

Seit Juli ist das „Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz“ in Kraft. Medizinhersteller können nun in Deutschland höhere Preise für Kindermedikamente verlangen, es gibt eine Pflicht zur Lagerung wichtiger Arzneien, und bei Antibiotika sollen Hersteller, die in Europa produzieren, bevorzugt werden.

NRW und einige andere Länder haben die Regeln für die Einfuhr von in der EU nicht zugelassenen Arzneien gelockert.

Wirkt das?

Beim Bundes-Arzneimittelgesetz sind sich Preis und Gerschlauer darin einig, dass die Wirkung „gleich null“ sei. „Das Versprechen der Bundesregierung, die Bedingungen für die Arzneimittelhersteller zu verbessern, wurde nicht eingelöst. Die Herstellung in Deutschland und in Europa ist für die Firmen heute genauso unattraktiv wie vorher“, erklärt Gerschlauer.

Nicht einig sind sich der Apotheker und der Kinderarzt bei der Beurteilung der Maßnahmen in NRW. „Das hat sogar in vielen Fällen zu einer Verschlechterung der Versorgung beigetragen, weil wir jetzt Medikamente bekommen, die sehr erklärungsbedürftig sind. Die Beipackzettel und die Verpackung sind oft fremdsprachig. Wir bekommen Antibiotika-Säfte aus den USA, die nicht der EU-Zulassung entsprechen und deren Beipackzettel durch Künstliche Intelligenz übersetzt wurden“, gibt Preis zu Bedenken. Oftmals fehlten auch die Dosierhilfen.

Geschlauer hält die Lockerung der Regeln in NRW für den Import von Arzneien ohne EU-Zulassung für eine gute Idee: „Man muss dankbar sein für jedes gute Medikament, das importiert werden kann. Ob der Beipackzettel fremdsprachig ist oder nicht, ist am Ende nicht entscheidend.“

Gibt es bessere Rezepte gegen den Mangel?

Nötig sei eine echte Wende, meint Apotheker Preis. Der Staat müsse dafür sorgen, dass Menschen ausreichend Medikamente zur Verfügung haben. „Wir müssen weg von der Sicht, Arzneimittelversorgung sei ein reiner Kostenfaktor. Versorgungssicherheit muss vor Wirtschaftlichkeit gehen.“

Die Politik müsse mit der Arzneimittel-Industrie die Voraussetzungen für eine Rückkehr nach Europa aushandeln und den Bürgern ehrlich sagen, dass Medizin teurer werde, meint Gerschlauer. Auf die Schnelle seien die Probleme jedenfalls nicht zu beheben: „Ein Baum ist schnell gefällt, aber er wächst nur sehr langsam nach.“ Jahrzehntelang sei die Maxime von Gesundheitsministerinnen und -ministern in Deutschland „Geiz ist geil“ gewesen.

Löst sich der Mangel auf lange Sicht auf?

„Im Gegenteil“, warnt Thomas Preis. Aufgrund der alternden Gesellschaft müssten die Apotheken in den nächsten 20 Jahren etwa 30 Prozent mehr Arzneimittel abgeben. Auch weltweit dürfte die Nachfrage nach Arzneien stark steigen. Europa müsse also konsequent neue Wege gehen, um die Versorgung zu sichern.

Was sagt das NRW-Gesundheitsministerium?

Die Lieferengpässe belasteten die Patientinnen und Patienten und müssten konsequent angegangen werden, so das Ministerium. Die Gesetzgebung des Bundes sei nur ein erster Schritt. Ziel sei es, die bestehende Produktion in Europa zu erhalten und insbesondere die Wirkstoff- und Ausgangsstoffherstellung nach Europa zurückzuholen.

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