Am Niederrhein. Vor genau 480 Jahren war Anna von Cleve vom Niederrhein aus unterwegs auf die britische Insel, um Heinrich VIII zu heiraten. Kein leichter Weg.
Weihnachten 1539. Ein Monat ist seit Annas Abschied von Schloss Wupper vergangen. Zum Abschiedsfest auf der Schwanenburg in Cleve am Katharinentag hatte sich ihre 263 Köpfe zählende Delegation versammelt. Mit 228 Reitpferden und Brabanter Zugpferden für Dutzende Kutschen war die strapaziöse Reise in 20 Tagen mit 18 Stationen bewältigt worden.
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Am 11. Dezember war Calais erreicht – und für viele Mitreisende war hier Schluss mit lustig! Ab nach Hause! Was war passiert? Weihnachten fällt ins Wasser! Es schüttet und stürmt seit Annas Ankunft unentwegt! Deshalb muss ihre Delegation – von den Engländern in Bausch und Bogen ‘The Cleveslander’ genannt – in der Festung der englischen Exklave Calais ausharren.
Anna residiert im Gouverneursdomizil ‘King’s Exchequer’. Die Gouverneursfamilie sorgt für Annas Kurzweil, und Lord High Admiral, William Fitz William, Earl of Southampton, wartet auf ideales Segelwetter. Am Tudorhof hatte man sich über Delegationsleitung und Wahl der Reiseroute frühzeitig den Kopf zerbrochen: Seeweg oder Landroute bis Calais?
Ein Faustpfand für den Feind
London hatte sich für die Landroute durch das habsburgische „Feindesland“ entschieden. Cromwell berief als Führungsperson, Reiseleiter und Berichterstatter den erfahrenen, mehrsprachig gebildeten Gesandten am Düsseldorfer Herzoghof, Dr. Nicholas Wotton.
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Wotton ist Anna wohlgesonnen. Auf Bitte von König Heinrich VIII. hatte Kaiser Karl V., Herrscher über das Heilige Römische Reich (HRR), das nötige Visum für die Durchreise zusammen mit seiner Schwester Maria, Königin von Ungarn und Statthalterin der Spanischen Niederlande, ausgearbeitet und am 27. Oktober 1539 in Brüssel gesiegelt. Maria war wegen des konfliktreichen Territorialstreits um Geldern an sich dagegen, Anna dem Feind quasi als Faustpfand zu übergeben.
Auffällig ist der familiär gehaltene Ton im Visumtext. Das Geschwisterpaar Karl und Maria nennt Anna „n(ot)re chère et bien a(i)mée cousine Dame Anne de Clèves“.
Reise ohne Zwischenfälle
In der Tat ist Anna mütterlicherseits eine waschechte Habsburgerin, nämlich eine Nichte von Karl und Maria. Annas Ururgroßmutter ist Margaretha von Österreich, Schwester von Kaiser Friedrich III., Urgroßvater des Geschwisterpaares und Urgroßonkel von Annas Mutter Maria.
Nach Verlassen der clevisch-geldrischen Territorien Ravenstein und Batenburg an der Maas hatte sich der gespenstisch anmutende Tross – man trug wegen der Trauer um Annas verstorbenen Vater Johann schwarz – vorschriftsmäßig verhalten und die Reiseroute strikt eingehalten.
Trotz der machtpolitisch angespannten Lage war ihre Reise ohne nennenswerte Zwischenfälle verlaufen. Holprige, verschlammte Wegstrecken und Furten der Flüsse ermöglichten allenfalls ein Tagespensum von 5 bis 20 Meilen. Die Brabanter und die Fuhrmänner mussten sich täglich abplacken.
Vor den Toren von Antwerpen
Annas vierspännige Kutsche benötigte an den Seiten häufig zwei weitere Brabanter als zusätzliche Zugpferde. Havarien an den schwer beladenen Gepäckkutschen waren an der Tagesordnung.
Der Kaiser hatte sein Wort auf freies Geleit gehalten. Vor den Toren von Antwerpen warteten zwei kaiserliche Repräsentanten, General Maximiliaan van Egmond, Graf van Buren, und François de Melun, Konstabler von Flandern, um Anna ihre Ehrerbietung auszudrücken und sie mit ihrer kaiserlichen Garde gen Calais zu begleiten.
Antwerpen bot den Höhepunkt der Reise mit einem Empfang durch 50 in feinstes Zwirn gekleidete Kaufleute der wohlhabenden, englischen Kaufmannsgilde der Wolltuchhändler „The Merchant Adventurers’ Company“. Der Gouverneur der Gilde, Stephen Vaughan, hieß Anna und ihre Delegation herzlich willkommen. Entlang der vom Reichtum geprägten Straßen jubelten begeisterte Bürger Anna zu.
Am Abend spendierte die Gilde ein opulentes Festessen mit grandiosem Unterhaltungsprogramm in ihrem prachtvoll ausgestatteten „English House“.
Treffen mit Konrad Heresbach
In Stekene kam es zwei Tage später zu Annas Treffen mit Konrad Heresbach. Das Wiedersehen fiel herzlich aus. Konrad Heresbach versicherte seinem „Anneken“, dass sie nichts zu befürchten habe. Der Bräutigam platze schon schier vor „Sehnsucht“! Offenbar verschwieg ihr Beschützer, auf welchen Anblick ihres zukünftigen Gemahls sich Anna einstellen müsse.
Ohne Vorwarnung nahm das Schicksal für die ahnungslose Braut seinen Lauf. Am frühen Morgen des 11. Dezember erreichten die „Cleveslander“ das englische Territorium „Pale of Calais“. An der Grenze holte sie eine 25-köpfige Delegation von edel gekleideten lords & gentlemen ab. „Southampton“ geleitete Anna zum Hafen, begleitet von Lord William Howard, jüngster Sohn von Herzoginwitwe Agnes Tylney, Sir Thomas Seymour, Bruder der verstorbenen Königin Jane, deren Schwager Gregory Cromwell, Sohn von Thomas, und Lord Lisle, Arthur Plantagenet, Statthalter von Calais.
Fahrt über den Kanal
Am „Lantern Gate“ wartete Lady Lisle, Honor Grenville, mit einer Gruppe vornehmer ladies & gentlewomen. Alle Kanonen von Kastell und Königsflotte sowie Gewehre der 200 Marines feuerten Salut, was allen durch Mark und Bein ging. Vor lauter Qualm konnte einer den anderen nicht mehr sehen. Schließlich sorgten Trompeter und Trommler beider Delegationen für den Rest dieses Spektakels.
Langsam sickert durch, dass auf Anweisung von oben die Delegationsliste rigoros zusammengestrichen worden ist. Für Überfahrt und Weiterreise in England werden Annas VIP, deren Personal und eine Gruppe von Fuhr- und Gepäckleuten akkreditiert. Alle anderen haben kehrtzumachen! Anna bleibt gut gelaunt, zeigt sich gesellig, sorgt für hierarchiefreie, wechselnde Tischordnungen und verblüfft ihre Gastgeber durch Geschick beim „Cent“ spielen. Glück im Spiel -- Pech in der Liebe?