Westerbork. Vom Durchgangslager in Drenthe fahren während des Zweiten Weltkrieges über 100.000 Juden in den Tod. Unter ihnen ist auch Anne Frank.

Es ist der 8. August 1944, als Anne Frank hierherkommt. Das jüdische Mädchen mit dem berühmten Tagebuch schöpft noch ein wenig Hoffnung, dass ihr, Schwester Margot und den geliebten Eltern das Schlimmste erspart bleiben möge. Was sollen sie auch sonst machen? Vielleicht gibt es ja noch einen Weg, diesen unheilvollen Ort gemeinsam hinter sich zu lassen – und zwar nicht in die falsche Richtung, nach Osten. Es bleibt beim sehnlichen Wunsch. Das kleine Dorf in der Provinz Drenthe im Nordosten der Niederlande wird ihr Schicksal – und das vieler anderer Verfolgter: Westerbork.

Seit der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht im zweiten Weltkrieg geistert der Name wie ein Schreckgespenst durch den Teil der niederländischen Bevölkerung, der mit den Nazis nicht gemeinsame Sache macht. Schon bevor Hitler seinen mörderischen Feldzug durch Europa beginnt, errichtet die niederländische Verwaltung im Februar 1939 in dem Örtchen das „Zentrale Flüchtlingslager Westerbork“. Ursprünglich soll das Camp bei Elspeet in Gelderland errichtet werden, aber Königin Wilhelmina hat etwas dagegen. Ihr Sommerpalast Het Loo ist nur zwölf Kilometer entfernt, außerdem sollen weiterhin Touristen in die beliebten Wälder der Veluwe kommen können. So wird schließlich das Amerveld op der Drentsche Heide bei Hooghalen, zehn Kilometer nördlich des Dorfes Westerbork, zum Ort des Schreckens.

Niederlande schwenkt um

Viele Juden aus Deutschland und Österreich fliehen zuvor in die zuvor neutrale Niederlande, doch auch dort sind sie nicht willkommen. Die Regierung in Amsterdam wedelt mit den Fähnchen im Wind und schließt kurz vor Weihnachten 1938 die Grenzen für Flüchtlinge und stempelt sie so zu unerwünschten Ausländern. Am 9. Oktober 1939 kommen die ersten 22 Internierten aus einer Gruppe von mehr als 900 deutschen Juden an, die vergeblich versucht hatten, mit dem Schiff St. Louis von Hamburg nach Kuba zu fliehen.

Es ist nur ein erster kleiner Vorgeschmack auf den bitteren Nutzen des Lagers, als die Deutschen am 10. Mai den Nachbarn überfallen und schließlich ab dem 1. Juli 1942 auch das „Kamp Westerbork“ unter den Befehl der SS gerät. Überall in den Niederlanden laufen Razzien gegen Andersdenkende: Kommunisten, Intellektuelle oder sonstige Widerstandskämpfer landen nach ihrer Gefangennahme durch die „Moffen“ in Westerbork. Und zwar neben den Juden, im sogenannten Durchgangslager.

In Westerbork wird nämlich noch nicht gestorben, die Nazis brauchen ihre Gefangenen noch als Arbeitskräfte, bevor sie schließlich entkräftet von allein umfallen oder in der Gaskammer vernichtet werden.

Wie Vieh abtransportiert

Von Westerbork aus geht es weiter, auf Viehwaggons in Richtung Endstation. Ab dem 14. Juli 1942 beginnen die Transporte aus den gesamten Niederlanden ins Durchgangslager. Anfangs steigen die Gefangenen noch am Bahnhof Hooghalen aus und müssen dann die sieben Kilometer bis zum Lager laufen. Ab Oktober 1942 wird die Deportation effektiver. Die niederländische Bahn NS baut ein Abschlussgleis ins Lager, das dieses mit der Bahnstrecke Meppel-Groningen verbindet. Jeden Dienstag fährt ein Zug aus Westerbork über Assen, Groningen und den Grenzbahnhof Nieuweschans nach Osten.

Die von der Deutschen Reichsbahn durchgeführte Fahrt dauert meist drei Tage, in der Zeit sind die Häftlinge wie Vieh zusammengepfercht. Etwas zu essen und trinken gibt es nicht, außer manchmal einen Eimer Wasser für alle. Wer trotzdem ein dringendes Bedürfnis hat, muss es neben den vielen anderen armen Geschöpfen halt im Waggon verrichten.

Zeitzeugin Eva Weyl berichtet regelmäßig bei verschiedenen Veranstaltungen, zum Beispiel in Schulen, on ihren Erfahrungen im Lager Westerbork.
Zeitzeugin Eva Weyl berichtet regelmäßig bei verschiedenen Veranstaltungen, zum Beispiel in Schulen, on ihren Erfahrungen im Lager Westerbork. © Funke Foto Services GmbH | Thorsten Lindekamp

Bis 1944 werden mehr als 107.000 Juden aus Westerbork per Zug in die Vernichtungslager der Nazis deportiert. Nach Auschwitz fahren 65 Züge mit 57.800 Insassen, Sobibor (34.313 Deportierte; 19 Züge), Bergen-Belsen (3.724/acht) und Theresienstadt (4.466/sechs) sind die anderen Ziele der Todgeweihten.

Am 3. September 1944 verlässt der letzte Zug das Zwischenlager Westerbork, in ihm befindet sich auch die Familie Frank. Als kanadische Soldaten am 12. April 1945 das Lager befreien – etwa 900 jüdische Häftlinge sind noch dort – ist die berühmte Tagebuch-Schreiberin schon tot.