An Rhein und Ruhr. Aus dem Stand hat das Bündnis Sahra Wagenknecht bei der Europawahl mehr als sechs Prozent geholt. Was die Partei nun in der EU bewegen will.
Am Sonntag war die im Januar gegründete Partei „Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit“ (BSW) erstmals bei einer großen Wahl angetreten. Aus dem Stand holte die Gruppe um die namensgebende ehemalige Führungsfigur der Linkspartei 6,2 Prozent und eroberte damit nach aktuellem Stand sechs Mandate für das Europaparlament. Einer der künftigen Europaabgeordneten des BSW wird der ehemalige Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel. Wie er das Ergebnis seiner Partei bewertet und welche Themen er im Europaparlament angehen will.
Frieden, Wirtschaft, Migration: BSW sammelt Unzufriedene um sich
„Wir sind eine Partei, die ein gewisses Vakuum auffüllt“, erklärt Geisel der NRZ gegenüber. Es gebe viel Unzufriedenheit mit der Ampel, aber auch mit der Politik der letzten 20 Jahre. „Die Leute – unabhängig davon, aus welcher politischen Richtung sie kommen – stecken in uns die Hoffnung, dass wieder Wirtschaftspolitik mit Vernunft gemacht wird. Und auch Menschen aus dem migrantischen Milieu wollen, dass die Migrationspolitik die Realität anerkennt. Dafür muss man die humanitäre Tradition des Grundgesetzes, aber auch die objektive Grenze der Integrationsfähigkeit der Kommunen sehen“, betont der designierte EU-Parlamentarier.
In Umfragen nach der Wahl gaben viele BSW-Wähler die Friedenssicherung als wichtigstes Thema an. Während Parteichefin Sahra Wagenknecht und auch Thomas Geisel selbst für kontroverse Aussagen über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine kritisiert wurden, sieht der Düsseldorfer Ex-OB „keine Alternative dazu, alle Anstrengungen zu unternehmen eine Lösung auf dem Verhandlungsweg zu erreichen. Den Konflikt in der Ukraine muss man auch vom Ende her denken“, sagt er. Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland seien „grundsätzlich nicht im Interesse Europas“, ist er sicher. „Denn Europa ist wie kein anderer Kontinent auf internationale Handelsbeziehungen angewiesen.“
Geisel: BSW plant eigene Fraktion im Europaparlament
Der Außenpolitik will sich der ehemalige SPD-Politiker, der gemeinsam mit dem ehemaligen Linken-Politiker Fabio de Masi als Spitzenduo zur Wahl antrat, daher auch im Europaparlament widmen. „Die Handlungsmöglichkeiten hängen davon ab, ob wir eine Fraktion bilden können. Dazu laufen bereits Gespräche und diesbezüglich bin ich verhaltenen optimistisch“, lässt Geisel durchblicken. „Ich denke, dass wir uns in der EU wieder auf die Themen konzentrieren sollte, mit denen die Mitgliedsstaaten allein überfordert sind. Ich kann mir gut vorstellen, in den Ausschuss für Industrie und Energie zu gehen, aber auch die Außenpolitik interessiert mich.“
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Er sei dagegen, „dass sich die EU zu einem Bündnis gegen Russland entwickelt“, betont Geisel. „Putin wird einmal Geschichte sein, aber Russland wird immer unser Nachbar in Europa sein, mit dem uns historisch, kulturell einiges verbindet. Deswegen sollten wir nicht mit dem Hintern alles einreißen, was in Zeiten der Entspannungspolitik aufgebaut wurde. Wir sollten nicht die Vision eines gemeinsamen europäischen Hauses von Michail Gorbatschow aus dem Blick verlieren.“
Das sind die BSW-Wähler
Das Bündnis Sahra Wagenknecht holte bei der Europawahl 6,2 Prozent der Stimmen. Dabei sind die Anteile über die Altersgruppen recht ausgeglichen verteilt. In der Gruppe der 25- bis 34-Jährigen und der 35- bis 44-Jährigen wählten 5 Prozent BSW, der Spitzenwert liegt bei 7 Prozent unter den über 70-Jährigen. Die übrigen Altersgruppen lagen bei 6 Prozent.
In der Nachwahlbefragung sagten große Mehrheiten der BSW-Wähler, dass sie mehr Einsatz für soziale Gerechtigkeit, weniger Migration und keine Waffenlieferungen an die Ukraine wollen. Auch gaben viele an, dass der Einfluss des Islam in Deutschland zu stark werde und dass zu viele Fremde nach Deutschland kämen. Von der Linkspartei zeigten sich viele enttäuscht.
Deutschlands EU-Mitgliedschaft sehen die BSW-Wähler gemischt. 39 Prozent sahen eher Vorteile, 19 Prozent eher Nachteile. 40 Prozent meinen, Vor- und Nachteile hielten sich die Waage.
BSW nahm der AfD weniger Protest-Wähler ab, als gedacht
In den Wochen und Monaten vor der Wahl wurde viel darüber gemutmaßt, ob das BSW der AfD möglicherweise Protestwähler abnehmen und so die Zustimmungswerte der Rechtsextremisten dämpfen könnte. Am Ende erzielte die AfD mit knapp 16 Prozent ein für die Partei starkes Ergebnis, was auch Thomas Geisel schockierte, wie er erzählt. „Ich hatte die Hoffnung, dass sie nach den Kontroversen der letzten Zeit schlechter abschneiden. Und ich hatte auch gehofft, dass wir ihnen mehr Stimmen abnehmen können“, räumt er ein.
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„Am Ende zeigt sich aber, dass die AfD besonders in Ostdeutschland einen gefestigten Kern an reinen Protest-Wählern hat, die auch keine Hoffnung auf Veränderung haben, sondern die einfach nur den alten, etablierten Parteien einen Denkzettel verpassen wollen“, resümiert Geisel. „Das ist ein ziemlich destruktives Wahlverhalten.“ Für seine ehemalige Partei, die SPD, hat er hingegen nur noch fast mitleidige Worte übrig: „Dass die SPD mal bei einer bundesweiten Wahl unter 14 Prozent landet, das hätte sich vor zehn Jahren niemand vorstellen können.“