An Rhein und Ruhr. Unternehmen müssen seit Januar 2024 eine höhere Ausgleichsabgabe zahlen. Aber: Bringt das den erwünschten Erfolg?

Der Blumenladen hat geschlossen, weil das Personal, das eh schon rar ist, erkrankt ist, das Lieblingsrestaurant um die Ecke führt einen weiteren Ruhetag ein, weil dem Gastronomen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fehlen. Den Fachkräftemangel an Rhein und Ruhr bekommen die Bürgerinnen und Bürger inzwischen beinahe täglich zu spüren. Dabei gibt es viele Menschen, die gern arbeiten würden und entsprechende Qualifikationen vorweisen. Rund 50.000 Menschen mit Behinderung in NRW sind arbeitslos. Ein neues Gesetz, das seit Jahresbeginn greift, soll dabei helfen, diese Menschen in Arbeit zu bringen. Doch Verantwortliche sind alles andere als euphorisch.

Was der Sozialverband VdK in NRW fordert

Unternehmen mit mindestens 60 Arbeitsplätzen, die keine schwerbehinderten Menschen beschäftigen, müssen seit dem 1. Januar 2024 monatlich 720 Euro pro unbesetzten Arbeitsplatz an die Inklusionsämter zahlen. Diese vierte Stufe der Ausgleichszahlung ist neu – und soll einen Anreiz für Arbeitgeber bieten, schwerbehinderte Personen einzustellen.

Unter anderem der Sozialverband VdK hat dies gefordert, muss aber eingestehen, dass das Mittel „nicht so wirksam ist, wie wir es uns erhofft hätten“, sagt Carsten Ohm, Bereichsleiter für Sozialpolitik und Bildung des VdK in NRW, im Gespräch mit der NRZ.

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Ähnlich sieht es Dennis Sonne, integrationspolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion im Landtag: „Ich finde es richtig, dass die Ausgleichsabgabe erhöht worden ist. Was ich nicht richtig finde, ist, dass Unternehmen diese wieder als Betriebsausgabe absetzen oder sie um die Hälfte reduzieren können, wenn sie Produkte in Werkstätten kaufen.“ Sein Fraktionskollege und arbeitspolitischer Sprecher Benjamin Rauer glaubt, „dass niemanden die Abgabe dazu bringt, jemanden einzustellen, um die Abgabe nicht zu zahlen. Gleichzeitig reicht die Abgabe nicht, um andere Unternehmen bei der Inklusion zu unterstützen. Kurzum: Sie ist richtig, aber es bringt nicht den gewünschten Erfolg.“

Wenn aber schon eine solche erhöhte Ausgleichsabgabe nicht den erwünschten Effekt bringt, was hilft dann?

Menschen mit Behinderung selbst finden diesen Satz nicht passend, weil er tatsächlich nur da steht, weil er da stehen muss.
Dennis Sonne

Die beiden Landtagsabgeordneten setzten sich dafür ein, Arbeitgeber zu motivieren und zu überzeugen. „Von rund 700.000 arbeitslos gemeldeten Menschen in NRW haben 50.000 eine Behinderung. Von diesen 50.000 Menschen hat rund die Hälfte eine abgeschlossene Berufsausbildung. Wir haben auch viele Menschen mit Behinderungen, die Akademiker:innen sind und ebenfalls keinen Arbeitsplatz finden. Dabei gibt es aktuell annähernd 140.000 offene Stellen in NRW. Das macht nochmal deutlich, wie dringend wir jede Fachkraft brauchen.“ Und der Staat habe durch die Beschäftigung Steuereinnahmen, die Kaufkraft werde gesteigert, Sozialversicherungsbeiträge flössen ins System.

Aber: „Man sieht es auch an der Arbeitslosenquote bei den Akademikern, selbst die haben Probleme auf dem Arbeitsmarkt. Viele Arbeitgeber sehen nicht die Vorteile, sondern nehmen aus Angst vor Überforderung Abstand davon, behinderte Menschen einzustellen“, schildert Benajmin Rauer seine Eindrücke.

Stellenausschreibungen verändern, Barrierefreiheit herstellen

Sonne, der selbst seit einem Unfall 2004 querschnittsgelähm ist und sich unter dem Namen „Sittin Bull“ als Rapmusik machender Inklusionsbotschafter versteht, fordert Unternehmen auf, Stellen anders auszuschreiben. „Es gibt diesen Satz: ‚Bewerberinnen mit Behinderungen werden bei gleicher Eignung bevorzugt behandelt‘. Klingt gut, funktioniert aber nicht“, sagt er. „Menschen mit Behinderung selbst finden diesen Satz nicht passend, weil er tatsächlich nur da steht, weil er da stehen muss. Ein arbeitsloser Mensch mit Behinderung wünscht sich eher einen solchen Satz: ‚Unser Büro ist rollstuhlgerecht und unser Team freut sich über mehr Bewerber:innen mit Behinderung‘. Dann habe ich als Bewerber ein komplett anderes Gefühl.“ Benjamin Rauer unterstreicht: „Unternehmen müssen ihre Ansprache ändern.“

Der VdK fordert noch etws anderes. „Die Arbeitsplatzsuche behinderter Menschen wird auch durch das Fehlen von barrierefreien Arbeitsstätten behindert. Wir fordern, die in der Arbeitsstättenverordnung ausdrücklich genannte Möglichkeit zu nutzen, in der Landesbauordnung entsprechende Barrierefreiheitsanforderungen für Arbeitsstätten vorzusehen und Arbeitgeber aufzufordern, Barrierefreiheit herzustellen“, stellt Carsten Ohm Klar. Sprich: Mindestens bei Neubauten sollten Arbeitgeber barrierfreie Zugänge zu den Betriebsstätten realisieren.

Sonne: Auch in Behindertenwerkstätten gibt es Potenzial

Aber auch in den Behindertwerkstätten sieht der gelernte Finanzwirt Sonne Fachkräftepotenzial für den ersten Arbeitsmarkt. In den Werkstätten arbeiteten „einerseits Menschen, die einen sehr hohen Förderbedarf haben, andererseits Menschen, die sehr produktionsstark sind und in den regulären Arbeitsmarkt inkludiert werden sollten. Das passiert aber nicht, weil die Werkstätten auch produktionsstarke Mitarbeiter benötigen.“ Nur 0,3 Prozent der Werkstätten-Mitarbeitenden wechselten in den allgemeinen Arbeitsmarkt, mein Sonne.

Trotz aller Probleme hofft das Inklusionsamt des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR), dass sich durch die Gesetzesänderung zum inklusiven Arbeitsmarkt die Bereitschaft zur Einstellung von Menschen mit Schwerbehinderung bei den Arbeitgebenden durch die Einführung der vierten Staffel der Ausgleichsabgabe „im Zusammenspiel mit den Einheitlichen Ansprechstellen für Arbeitgeber„ erhöhen wird, wie ein Sprecher gegenüber der NRZ mitteilt. Die Inklusionsämter erhalten das Geld aus der Ausgleichsabgabe. Sie beraten und unterstützen Arbeitgeber kostenfrei bei der Ausbildung, Einstellung und Beschäftigung von schwerbehinderten Beschäftigten.