Am Niederrhein. In NRW fehlen 110.400 Kita-Plätze. Ein Gespräch mit Birthe Capra, Fachberaterin für Kitas in den Ev. Kirchenkreisen Wesel und Kleve.
Schlagzeilen wie „Kita-Notstand“ oder „Kita-Kollaps“ sind immer häufiger zu lesen. Doch wie ist es tatsächlich um die Kitas in der Region bestellt? Einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung in NRW fehlen rund 110.400 Kita-Plätze – besonders bei Kindern unter drei Jahren lässt sich der Betreuungswunsch der Eltern häufig nicht erfüllen. Allein im Kreis Kleve haben 33,5 Prozent der Kinder unter drei Jahren keinen Platz bekommen, im Kreis Wesel sind es sogar 39,9 Prozent. Birthe Capra ist Fachberaterin für 28 Kitas in den Evangelischen Kirchenkreisen Wesel und Kleve sowie in Mülheim. Sie kennt die Problematik, sagt aber auch: „Es hilft nicht, nur zu jammern. Politik und Gesellschaft müssen mit anpacken.“ Im Gespräch erklärt sie, was sich aus ihrer Sicht ändern müsste.
Wieso gibt es zu wenige Kita-Plätze?
Der Fachkräftemangel ist ein ganz großes Thema. Deshalb müssen wir unbedingt ausbilden, aber wir brauchen auch jetzt sofort mehr Personal. Das ist natürlich ein Dilemma. Daneben ist die instabile Finanzierung ein großes Thema. Zwar wurde eine Tarifsteigerung durchgesetzt, aber wenn die Politik die Refinanzierung nicht auch schnell umsetzt, müssen die Träger erstmal an ihre Rücklagen dran. Dazu kommen die gestiegenen Energie- und Baukosten sowie die Inflation. Und, auch das ist ein Thema, der Bedarf bei Familien wird immer größer. Vielleicht wurde das vor einigen Jahren noch falsch eingeschätzt, aber gerade bei den Betreuungsplätzen für Kinder unter drei Jahren und für 45-Stunden in der Woche ist der Bedarf riesig. Es sind also mehrere Punkte, die zusammenhängen.
Ist die Situation in den Kitas selbst denn tatsächlich auch so schlimm?
Die pädagogischen Fachkräfte sind absolut am Limit! Der Landschaftsverband hat Vorgaben für den Betreuungsspiegel – ganz grob lässt sich der herunterbrechen auf zwei Köpfe pro Gruppe – und wenn die Kitas darunter liegen, können sie nicht öffnen. Ich bekomme tatsächlich jede Woche eine Nachricht, dass irgendwo die Öffnungszeiten nicht zu hundert Prozent aufrechterhalten werden können. Dabei tun die Erzieher*innen wirklich alles, um den Betrieb am Laufen zu halten. Und es ist so traurig zu sehen, dass die pädagogischen Fachkräfte gute Arbeit leisten wollen, sie wollen einen Ort der Geborgenheit schaffen, aber haben dafür einfach nicht mehr viel Zeit. Das ist frustrierend!
Wie lässt sich das Problem lösen?
Darüber wird aktuell viel diskutiert. Ohne Geld geht natürlich nichts, aber auch der Wille ist entscheidend. Immerhin sprechen wir über die Gesellschaft von morgen! Das Kita-System als Bildungsort muss ernster genommen werden. Und zwar nicht nur von Eltern, die ja direkt betroffen sind. Aber zum Glück gibt’s langsam immer mehr Fürsprecher*innen, wie sich zuletzt auch im Oktober gezeigt hat, als über 20.000 Leute an der Protestaktion vor dem Düsseldorfer Landtag teilgenommen haben.
Wie lassen sich junge Menschen dazu animieren, Erzieherin oder Erzieher zu werden?
Die Ausbildung muss sich verändern. Oft findet sie noch an Fachschulen statt, was bedeutet, dass die Azubis drei Jahre lang kein Geld verdienen. Zwar gibt es bereits auch praxisorientierte Ausbildungsplätze, aber noch sind das viel zu wenige. Außerdem muss eine Fachkarriere im Betrieb auch tariflich abgedeckt sein. Das ist bislang noch nicht so. Wenn ich also eine Weiterbildung mache, muss sich das auch im Gehalt widerspiegeln.
Was sind Themen, die für Kitas in Zukunft noch wichtiger werden?
In unserem Fortbildungsprogramm fürs kommende Jahr liegen die Schwerpunkte auf Partizipation und Kinderschutz. Partizipation haben wir schon seit einigen Jahren auf der Agenda, ist aber weiterhin total wichtig. Denn Kinder haben ein Recht darauf, Dinge mitzuentscheiden, die sie betreffen. Allerdings fällt die Demokratie nicht vom Himmel, deshalb haben wir in einigen Kitas bereits kleine Kinderparlamente entwickelt…
Und worüber diskutieren die Kinder dann in solchen Parlamenten?
Das kommt aufs Alter an. Es kann darum gehen, welche Anschaffungen wir für den Außenbereich brauchen oder welche Ausflüge wir machen wollen. Manche, die schon etwas weiter sind, sprechen auch über die Tagesstruktur. Für all das braucht es aber eine pädagogische Haltung. Ich muss anerkennen, dass Kinder lernen wollen und dass ich sie dabei begleiten kann. Übrigens, auch das Thema Kinderschutz nimmt die Rechte von Kindern in den Blick.
Geht’s dabei um die Erkennung von Kindeswohlgefährdung?
Rund um den Paragrafen 8a müssen alle neuen Mitarbeitenden bei uns sowieso immer eine Schulung machen, damit sie sensibel für das Thema sind und Hinweise erkennen. Das kann ein blauer Fleck an einer unüblichen Stelle sein, meistens aber findet die Kindeswohlgefährdung in der Verwahrlosung statt. Also wenn das Kind jeden Tag mit völlig verdreckten Klamotten oder im Winter mit Sandalen kommt. Für solche Fälle gibt‘s klare Verhaltensregeln, wobei immer erstmal Gespräche mit den Eltern geführt werden sollen.
Welche Rolle spielen Inklusion und Diversität in Kitas?
Unsere Kitas sind alle inklusiv, wir lehnen keine Kinder aufgrund einer Behinderung ab. Erforderliche Hilfen laufen über das Bundesteilhabegesetz, wobei ich mir auch dabei mehr Unterstützung und weniger Bürokratie wünschen würde. Diversität in Kitas ist dagegen ein kritisch diskutiertes Feld, deshalb muss man sehr sensibel damit umgeben. Für mich stellt sich die Frage aber eigentlich nicht, weil wir immer bedürfnisorientiert und damit auch divers arbeiten. Wenn ein Junge beispielsweise gerade Spaß an Rollenspielen hat und Kleider anzieht, dann würde niemand etwas dagegen sagen. Es geht immer um das einzelne Kind sowie um seine Bedürfnisse und seinen Lernweg. Wenn wir diese Haltung annehmen, müssen wir auch nicht mehr über Inklusion oder Diversität sprechen.
Fachberatung für Kitas
Die Fachberatung Kindertagesstätten in den drei Evangelischen Kirchenkreisen Kleve, Wesel und Mülheim an der Ruhr unterstützt und berät Einrichtungen, pädagogisch Mitarbeitende, Leitungen und Träger. Im neuen Jahresprogramm 2024 finden sich Bildungsangebote zu verschiedenen Themen: Etwa das „Erkennen von und Handeln bei Kindeswohlgefährdung“ (15. Februar) oder die „Kolleg*innen von Morgen“ (7. Februar).
Alle Bildungsangebote sind in einer Broschüre zusammengefasst und auf den Internetseiten des Evangelischen Kirchenkreises Kleve sowie des Diakonischen Werks Wesel auffindbar. Kontakt zur Fachberaterin Birthe Capra: 0281/156203 oder capra@diakonie-wesel.de, Anmeldung und Info zu den Bildungsangeboten: Mara Laurenz, 0281/156240 oder mara.laurenz@diakonie-wesel.de
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Die Arbeit in Kitas ist total sinnstiftend. Deshalb wünsche ich mir, dass das Feuer neu entfacht wird, um die Begeisterung für den Job auch weiterzugeben! Und natürlich politische und somit finanzielle Unterstützung.