An Rhein und Ruhr. Noten sind gerechter als keine Noten – und ein Instrument für eine gerechtere Gesellschaft. Aber auch subjektiv. Passt nicht zusammen? Doch!
Zeugnistag! Bei dem Wort kommen bei vielen die Erinnerungen hoch. Welche – das hängt wohl davon ab, ob man meistens gute oder doch eher schlechte Noten zu erwarten hatte. Heute bekommen knapp zwei Millionen Schülerinnen und Schüler in NRW ihre Zeugnisse. Und in so mancher Familie wird dann wohl die Frage gestellt, ob die Noten gerecht sind.
Das ist ein gutes Thema für unsere neue Gerechtigkeitsserie. Wir haben einen Wissenschaftler, eine Schulleiterin und eine Schülerin dazu gefragt: Sind Noten gerecht? Hier beginnen wir mit der Wissenschaft. Hermann Josef Abs ist seit 2013 Professor für Erziehungswissenschaften mit dem Schwerpunkt Schulpädagogik an der Uni Duisburg-Essen.
Herr Professor Abs, sind Noten gerecht?
Hermann Josef Abs: Natürlich wollen Lehrerinnen und Lehrer gerechte Noten geben; das ist Teil ihrer Berufsethik; das lässt sie bei Schülern und Eltern zu anerkannten Professionellen werden. Aber sie stehen dabei vor der Herausforderung, verschiedenen Kriterien gerecht zu werden.
Nämlich welchen?
Einmal sollen Noten leistungsgerecht sein. Es gibt Vorgaben dazu, was in der achten Klasse im Fach Mathematik gekonnt werden soll. Daran bemisst sich die Leistung und zu der sollte die Note angemessen sein. Lehrerkräfte wollen aber auch berücksichtigen, wie sich Schüler entwickelt haben. Es kann sein, dass ein Schüler die Leistungskriterien erfüllt, aber in dem Jahr nichts dazugelernt hat. Und ein anderer Schüler ist vielleicht objektiv schlechter, hat aber individuell einen enormen Leistungssprung gemacht. Dann kann es sein, dass der Lehrer das honorieren und ermutigen will und gerecht zurückmelden will: Du hast dich gut entwickelt.
Das sind aber völlig verschiedene Kriterien. In einem Fall wird der Schüler an objektiven Standards gemessen, im anderen Fall an seiner subjektiven Entwicklung. Und dann könnte er oder sie sich ja auch noch mit seinen Mitschülerinnen und Mitschülern vergleichen.
Das wäre ein drittes Kriterium, das ich noch nicht benannt habe: den Vergleich mit den Klassenmitgliedern. Wir haben also drei Kriterien des Vergleichs: an der Sache, mit der individuellen Entwicklung und mit der Lerngruppe. Das alles muss der Lehrer verarbeiten. Als Lehrer würde ich Vergleiche zwischen Schülern oft gerne vermeiden, aber den Kindern kann man es nicht verbieten sich untereinander zu vergleichen.
Dann bräuchte es doch eigentlich drei verschiedene Noten.
Zunächst geht es um das sachliche Leistungskriterium. Gleichzeitig sind Lehrer Pädagogen und lassen – völlig angemessen – pädagogische Erwägungen in die Noten einfließen. Vielleicht war ein Schüler schwer erkrankt und man gibt ihm eine Vier, weil man sicher ist: Im nächsten Jahr findet er wieder Anschluss.
Ist es aber auch möglich, dass ein Lehrer Vorurteile gegenüber einigen Schülern hat?
Das kann im ungünstigen Fall auch eine Rolle spielen. Lehrkräfte lernen in der Ausbildung, dass Notengebung von äußeren Merkmalen beeinflusst werden kann. Das kann der Bildungshintergrund der Eltern sein, das kann das Aussehen, die Herkunft oder das Geschlecht sein. Solche Beurteilungsfehler können nicht nur Lehrer betreffen, sondern uns alle. Lehrer wissen das und stehen vor der Herausforderung, es bei ihrer Beurteilung außen vor zu lassen.
Jetzt gibt es Fächer, wo der Laie meint, dass der subjektive Spielraum größer ist. In Mathematik kann man sich eher an Fakten orientieren als beispielsweise bei der Frage, wie ein Aufsatz geraten ist. Dann gibt es Fächer, bei denen die Begabung eine Rolle spielt, wie in Sport, Musik und Kunst.
Empirisch wissen wir, dass Fünfen in einigen Fächern häufiger vorkommen als in anderen. Das deutet in die Richtung, dass in anderen Fächern das Notenspektrum nicht voll ausgeschöpft wird und pädagogische Erwägungen sich stärker in den Noten niederschlagen. Beispielsweise wird im Sport traditionell das Notenspektrum in diesem Sinne nicht ausgeschöpft.
Seit etlichen Jahren gibt es zentrale Prüfungen und Zentralabi. Verändert das die Rolle der Lehrkräfte?
Die Zentralisierung des Abiturs ist zwar wegen der relativen Einschränkung der pädagogischen Freiheit von einigen Lehrern kritisiert worden. Ich denke aber, dass es mehr Positives hat. Wenn ein Teil der Aufgaben von außen vorgegeben wird, verändert sich die Rolle der Lehrkräfte mehr zu einem Trainer. Lehrer und Schüler bereiten sich dann gemeinsam auf etwas vor, was positiv für das Verhältnis zwischen ihnen sein kann. In Deutschland ist allerdings die Zentralisierung eher gering, weil die Korrektur weitgehend innerhalb der Schule erfolgt. Auch fließen beim Abi Noten aus einem Zeitraum von zwei Jahren ein, da macht die teilweise Zentralisierung der Abiturprüfungen nur einen kleineren Anteil der Abiturnote aus.
Der Notenschnitt des Abiturs ist drastisch gestiegen. Sind die Jugendlichen so viel klüger als früher?
Eine viel diskutierte Frage. Ich würde zurückfragen: Wie wichtig ist das? Die Jugendlichen konkurrieren ja nicht mit früheren Generationen, sondern innerhalb ihrer eigenen. In dieser Hinsicht ist diese Verschiebung über Jahrzehnte eigentlich nicht relevant. Man sollte ja eher fragen, ob Noten noch sinnvoll sind, wenn alle ein sehr gutes Abitur machen.
Ihre Antwort?
Wenn alle eine 1,0 hätten, dann hätte man Noten objektiv abgeschafft. Historisch gesehen, sind Noten aber eine wichtige Möglichkeit des sozialen Aufstiegs. Erst im 19. Jahrhundert entwickeln sie sich als ein Instrument, um Positionen in der Gesellschaft mehr nach Leistung und nicht nur nach Geburt vergeben zu können. Noten sind also zunächst eine Chance für Menschen, die nicht durch Eltern in bestimmte Position geraten.
Noten schaffen also soziale Gerechtigkeit?
Zumindest schaffen sie eine größere soziale Gerechtigkeit als keine Noten – das wäre meine These. Natürlich lassen sich die Voraussetzungen nicht voll ausgleichen und die Gefahr, dass sie durch Stereotypen und Vorurteile mitgeprägt werden, bleibt. Deswegen ist es besonders wichtig, dass Lehrerinnen und Lehrer die Notenvergabe trainieren und diese reflektieren. Insbesondere die Abiturnote ist aber ein relativ gutes Messinstrument, weil hier viele Noten vieler Lehrkräfte über einen längeren Zeitraum zusammenfließen.
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Was raten Sie Schülern, die heute ihre Zeugnisse bekommen?
Schaut auf das eigene Zeugnis und sucht euch zwei Fächer aus, wo ihr nächstes Jahr besser werden wollt, überlegt wie das gehen kann. Mein Rat an die Eltern wäre: Machen Sie sich bewusst, dass Noten nur einen kleinen Aspekt ihres Kindes erfassen. Ich persönlich folge dem Rat eines ehemaligen Grundschullehrers. Der gab seinen eigenen Kindern für jede Vier drei Mark, für jede Drei zwei, für jede Zwei gab es noch eine Mark und für ein Sehr Gut gar kein Geld. Seine Begründung: Bei meinen Kindern muss ich nicht den Schulerfolg bewerten, sondern ich tröste sie, und zeige ihnen, ich liebe sie, egal welche Noten sie nach Hause bringen.
Es bleibt offen, was der Lehrer für Fünfen und Sechsen zahlte…
Sie können das individuell anpassen. Bei Fünfen und Sechsen muss nach meiner Meinung die erste Frage sein: Wie kann ich mein Kind besser unterstützen? Welche Bedingungen braucht es zum Lernen?
Das heißt: Schlechte Noten sind ein Appell an die Eltern: Was können wir tun?
Gewissermaßen. Eine weitere Möglichkeit wäre für jede Note, egal welche, in den Ferien ein Eis auszugeben. Auch das scheint mir ein guter Plan. Schule ist ja nur ein Teil des Lebens und sollte die Verhältnisse zu unseren Kindern nicht bestimmen.
Hier gehts weiter mit dem Thema: Sind Noten gerecht? So denken eine Lehrerin und eine Schülerin darüber