Essen. Die Reichen werden mehr, die Armen auch. Und viele fühlen sich nicht verstanden. Auf der Suche nach Spuren der Gerechtigkeit.

Wie groß war einst der Aufschrei, als Schülerinnen und Schüler regelmäßig die Schule schwänzten, um auf der Straße für mehr Klimaschutz zu protestieren! Sie fanden es ungerecht, wie mit ihrer Zukunft umgegangen wird. Aber ist es gerecht, dafür die Schule zu schwänzen? Und wie viele Menschen gingen in Frankreich auf die Straße, weil sie nun bis zum 64. Lebensjahr arbeiten und ihre Rente zwei Jahre später beziehen sollen! Was die Franzosen als ungerecht empfinden, sorgt in Deutschland für ein müdes Lächeln. Aber was ist das eigentlich: Gerechtigkeit?

Die Antwort lautet: Es kommt darauf an, wen man fragt.

Der Jurist würde sagen: Gerechtigkeit ist die vollkommene Verwirklichung des Rechts. „Ziel aller Rechtssetzung und Rechtsanwendung ist Gerechtigkeit“, steht im „Fachlexikon Recht“ von Alpmann Brockhaus.

Die Sprachforscherin würde Gerechtigkeit vom indogermanischen Wort reĝ ableiten, was so viel wie „gerade rücken“, „lenken“, „führen“ oder „herrschen“ bedeutet.

Der Philosoph würde sagen: Eine gerechte Gesellschaft bringt auch den Schwächsten einen Vorteil – nur dann sind Unterschiede in Verteilung von Vermögen zu akzeptieren. So sah es in den 1970er Jahren John Rawls. Dazu gehört ein größtmögliches Maß an Freiheiten für alle Menschen.

Soziologin Yasemin Niephaus von der Uni Siegen.
Soziologin Yasemin Niephaus von der Uni Siegen. © Uni

Die Soziologin hingegen blickt auf die Auswirkungen auf den Menschen und beschäftigt sich allen voran mit der Frage der sozialen Gerechtigkeit. „Soziale Gerechtigkeit lässt sich definieren als Leitprinzip staatlich politischen Handelns. Das ist im Grundgesetz festgeschrieben“, erklärt Privatdozentin Dr. Yasemin Niephaus, Soziologin an der Uni Siegen, im Gespräch mit der Redaktion.

„In Artikel 20 Absatz 1 wird die Bundesrepublik als sozialer Bundesstaat, in Artikel 28 Absatz 1 wird sie als sozialer Rechtsstaat benannt. Im Gedanken des Sozialstaates steckt also der Ausgleich, orientiert an sozialer Gerechtigkeit.“

Auch Prof. Dr. Sascha Schierz, Soziologe an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach, sieht in gewisser Weise in unserer Verfassung das Grundgerüst für eine gerechte Gesellschaft. „In der Form von Gesellschaft, in der wir leben, haben wir nur zwei Mechanismen. Es geht einerseits um Fragen von Umverteilung, also die Einkommensverhältnisse und der Ausgleich“, erklärt er. „Und dann geht es um Fragen von Anerkennung: Habe ich Zugang, habe ich Möglichkeiten, sind die Zugangsformen gerecht, ist meine Lebensform mit abgebildet oder wird sie ausgeschlossen?“

Alleinerziehende sind am stärksten benachteiligt

Es geht also um Chancengleichheit einerseits und Verteilungsgerechtigkeit andererseits. Das sind durchaus relevante Fragen, die unser aller Alltag betreffen. „Nach allem, was wir aus der sozialen Ungleichheitsforschung wissen, ist die stärkste von Ungleichheit betroffene Gruppe die der alleinerziehenden Mütter. Das wissen wir spätestens seit den Hartz-Reformen mit den Ideen davon, wie zu arbeiten oder an Fortbildungen teilzunehmen ist. Aber: Spätestens wenn man zwei Kinder hat, ist das nicht mehr aufrechtzuerhalten. Dann ist Gerechtigkeit keine Tugendfrage, sondern eine Frage der Möglichkeit, innerhalb dieses Lebensentwurfes teilhaben zu können.“

Was ist gerecht? Unsere neue Serie

Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger hat das Gefühl, es gehe in Deutschland nicht gerecht zu – weder bei der Verteilung von Vermögen noch zwischen den Generationen. Das ergab eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem vergangenen Jahr. Das, so die Stiftung, sei ein Anlass zur Sorge: Menschen, die mehr Ungerechtigkeit wahrnehmen, vertrauen Politik weniger, seien seltener zu Veränderungen bereit.

In den kommenden Wochen werden wir uns in der NRZ der Frage widmen, wie gerecht oder ungerecht es bei uns in NRW zugeht. Dabei würde uns interessieren, was Sie als gerecht empfinden. Haben Sie schon mal eine große Ungerechtigkeit erfahren? Schreiben Sie uns gern an: seitedrei@nrz.de.

Wie Verteilungsgerechtigkeit funktioniert, beschreibt Yasemin Niephaus anhand unseres Sozialversicherungssystems. „Die Arbeitslosen- und Rentenversicherung funktionieren nach dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit. Wer mehr Einkommen erworben hat, zahlt mehr ein und bekommt dadurch am Ende mehr an Leistungen. Das stellt niemand in Frage“. Die Kranken- und Pflegeversicherung ist ebenfalls ein Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit, basiert aber auf einem anderen Prinzip: „Hier bekomme ich die Leistung nicht in Abhängigkeit von meinem Einkommen, sondern in Abhängigkeit von meinem Bedarf, also meiner Krankheit oder meiner Pflegebedürftigkeit.“

Soziologe Sascha Schierz von der Hochschule Niederrhein.
Soziologe Sascha Schierz von der Hochschule Niederrhein. © Hochschule Niederrhein

Diese Beispiele zeigen, dass ein Modell mal einer Zeit gerecht werden kann, es aber zu einer anderen durchaus angepasst werden muss. „Man muss immer schauen, auf welchen Gerechtigkeitsprinzipien basieren diese institutionellen Regelungen und sind sie noch zu den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen kompatibel. Dann wird man vielleicht feststellen, dass es unter gegebenen Verhältnissen nicht mehr gerecht zugeht. Damit müsste das Thema in den politischen Prozess münden“, so Niephaus.

Auch Sascha Schierz sieht das Herstellen von Gerechtigkeit als politischen Prozess. „Wer fordert eigentlich Gerechtigkeit ein? Es sind diejenigen, die sich nicht abgebildet oder vernommen fühlen, die überhört oder nicht gesehen werden. Oder auf der anderen Seite die, die denken, dass sie nicht den gerechten Anteil bekommen, nicht die gerechte Repräsentation.“ Gerechtigkeit ist also eine ständige Anforderung, ein dynamischer politischer Entscheidungsprozess.

Bleibt die Frage, ob sich Gerechtigkeit überhaupt herstellen lässt?

Bereitschaft zur Veränderung ist gering

Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem vergangenen Herbst. Demnach hat die Mehrheit der Deutschen das Gefühl, es gehe nicht gerecht zu. Die Bereitschaft, das zu ändern, ist allerdings gering ausgeprägt. 75 Prozent der knapp 5000 Befragten sprechen sich zwar für die Verringerung des Unterschieds zwischen Arm und Reich aus, aber nur 37 Prozent sind demnach bereit, dafür selbst höhere Steuern zu zahlen.

Ohne Reichtum gibt es keine Armut, ohne Armut keinen Reichtum. Kann es in einem reichen Land wie Deutschland denn überhaupt gerecht zugehen?

Sascha Schierz’ Fazit fällt ernüchternd aus: „Aus soziologischer Brille unter kapitalistischen Bedingungen betrachtet, glaube ich das nicht. Insbesondere nicht, wenn wir immer stärker dazu neigen, Gewinne zu privatisieren und Verluste zu sozialisieren. Das funktioniert nicht. Solange ererbtes Eigentum einen besseren Stellenwert als erarbeitetes Eigentum hat, dann sicherlich auch nicht. Das ist systematisch angelegt. In der Form, wie wir zusammenleben, produziert der Reichtum der einen die prekären Lagen der anderen. Aber das ist kein statisches Verhältnis, weil es eben die politischen Prozesse gibt. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Reichen damit durchsetzen, ist ungleich höher durch den Zugang zur Macht, zu Bildung und dazu, bestehendes Eigentum weiterhin nutzen zu können.“