Bad Neuenahr-Ahrweiler. Als die Flut im Juli 2021 das Ahrtal verwüstete, stellte sich das Leben der Familie Lingen auf den Kopf. Der Ärger über Bürokratiehürden wächst.

„…und dann hat es die ganze Nacht gerauscht“, erinnert sich Tanja Lingen. Wenn die Winzerin an den späten Abend des 14. Juli 2021 denkt, wirkt die sonst so lebensfrohe 50-Jährige plötzlich in sich gekehrt. „Wir sind überrollt worden, irgendwann gab es kein Licht mehr. Dann stieg und stieg das Wasser. Als wir gesehen haben, dass wir nicht mehr viel tun können, sind wir nur noch hoch in die Wohnung“, erzählt die Chefin des Weinguts Peter Lingen, das nur 350 Meter von der Ahr entfernt liegt.

Außer Rauschen war nur viel Stille

Sie zeigt auf den Balkon des ersten Obergeschosses, auf dem die Familie die Flutnacht verbracht hat. Stunde um Stunde verging und außer dem Rauschen war da nicht viel, nur Stille – laute Stille. An die Worte ihres Mannes Peter erinnert sich Tanja Lingen noch gut. „Wir werden in nächster Zeit noch viel Kraft brauchen“, sagte er in den frühen Morgenstunden, nachdem er einen Blick auf die Straße wagte und das Ausmaß des Hochwassers wohl nur erahnen konnte.

20 Monate ist es nun her, dass aus dem beschaulichen Flüsschen, der Ahr, ein reißender Strom wurde, der Häuser, Autos und Menschen verschlang. Im Hochwasser ließen in Rheinland-Pfalz 135 Menschen ihr Leben, in NRW waren es 49. Auch heute noch kennzeichnen getrocknete Schlammreste an der Lampe der Eingangstür des Weingutes den damaligen Wasserpegel.

Das Wasser stand 2,19 Meter hoch

2,19 Meter hoch stand das Wasser im Erdgeschoss des Hauses. „Als ich morgens geschaut habe, war alles mit einer braunen Brühe überzogen“, erinnert sich Lingen zurück. Der Weinkeller musste ausgepumpt, gereinigt und letztendlich saniert werden. Fünf Ferienwohnungen waren zu der Zeit im Besitz der Familie, auch hier hat das Wasser großen Schaden angerichtet.

Doch trotzdem wirkt es so, als würde Lingen in all diesen Dingen Positives finden. „Das Wasser hätte niemand aufhalten können. Ich sage immer, wir haben uns die Luxusvariante des Hochwassers ausgesucht. Es war bei uns glücklicherweise nur Material, das zerstört wurde und keine Angehörigen, die wir verloren haben. Und das Wichtigste ist ohnehin, dass wir in der Flutnacht zusammen waren.“

Andenken an die Zeit nach der Flutkatastrophe im Juli 2021 stehen in der Garage des Weinguts Peter Lingen.
Andenken an die Zeit nach der Flutkatastrophe im Juli 2021 stehen in der Garage des Weinguts Peter Lingen. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann Funke Foto Services

Während sie von der Zeit nach der Katastrophe erzählt, wirkt die 50-Jährige fast freudig, ein Strahlen zeichnet sich auf ihren Wangen ab. Ihre Gummistiefel nennt sie ganz liebevoll „Flutpumps“. „Wir haben unfassbar viel Unterstützung bekommen. Da kamen Wildfremde, die hier Schlamm geschleppt haben. Landwirte, die ihre eigenen Höfe hinten angestellt haben und Winzerkollegen weltweit, die mit Maschinen kamen“, berichtet sie. Auch heute, viele Monate später, liest man ein Wort im Ahrtal ganz besonders oft: „Danke!“

Hilfe wurde zugesichert, jetzt komme nichts mehr

Doch obwohl viel Dankbarkeit und Optimismus herrscht, gibt es auch für die Familie Lingen einen Grund zum Ärgern. „Die Flut kam politisch gesehen natürlich sehr günstig, so kurz vor den Bundestagswahlen. Da waren noch alle hier und haben ihre Hilfe zugesichert, jetzt kommt da nicht mehr so viel“, ärgert sich die sonst so fröhlich erscheinende Winzerin.

„Wenn man Hilfen bekommen möchte, muss man sich erst einmal durch eine Litanei an Anträgen kämpfen.“ Das Weingut war nämlich nie elementarversichert, viel zu abwegig sei so eine Flut in dem Ausmaß gewesen.

Die Soforthilfe habe die Familie bekommen. „Das war aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein.“ Seit Monaten schlage sie sich nun mit der Bürokratie herum, sagt Tanja Lingen. „Für die Antragstellung braucht man viele Gutachter, viel Geduld und starke Nerven.“

Die Familie lebt vom Ersparten

Dass die Familie vor der Flut gut gewirtschaftet habe, sei jetzt von Vorteil, „aber das ist natürlich irgendwann aufgebraucht.“ Momentan lebe die Familie von diesem Ersparten, von dem, was sie mit ihrem Weinverkauf aus der Garage verdienen, von der Lebensversicherung von Peter und von Spendengeldern. „Aber jetzt haben wir noch Handwerker im Haus, die werden auch bald Rechnungen stellen und wollen bezahlt werden.“

Hoffnung habe sie aber weiterhin. „Ich sehe ja auch trotzdem, dass sich etwas tut“, stellt die Winzerin fest. Erst vor ein paar Tagen wurde neuer Estrich verlegt, der Weinkeller ist wieder mit Fässern gefüllt, die Ferienwohnungen sind bewohnbar, sogar eine sechste ist hinzugekommen. „Die war sowieso geplant, aber nun ging das einfach schneller mit dem kompletten Umbau.“ Und trotzdem: „Wir sind noch lange nicht fertig und hier ist auch noch lange nicht alles gut. Was über so unendlich viele Jahre entstanden ist, kann nicht innerhalb von zwei Jahren wieder aufgebaut werden“, so Lingen.

In der Katastrophe eine große Chance sehen

Apropos: Das Wort „Wiederaufbau“ mag die Winzerin gar nicht. „Ich möchte gar nicht, dass es wieder genau so wird wie vorher.“ Es scheint fast so, als würde sie in der Katastrophe auch eine große Chance sehen. „Die jungen Leute haben jetzt auch die Möglichkeit, das Ahrtal so mitzugestalten, wie sie es gerne hätten“, das gilt wohl auch für ihre beiden Söhne, die den Betrieb einmal übernehmen möchten.

Ihr ältester Sohn Jan steckt gerade gemeinsam mit Vater Peter in den Vorbereitungen, denn: In der nächsten Woche öffnet das Weingut seine Türen zum Tag der Offenen Weinkeller im Ahrtal. Vielleicht kommt dann ja auch der eine oder andere Fluthelfer vorbei …