Bedburg-Hau. Im Kreis Kleve fehlen schon jetzt fast 15 Hausärzte – und die, die tätig sind, sind oft sehr alt. Doch es gibt Konzepte gegen die wachsende Not.

Jakub Czarnecki wohnt wieder bei seinen Eltern - zumindest ein paar Wochen. Für den Weg zur Arbeit nimmt er das Fahrrad seiner Schwester: Der 21-Jährige ist ins Elternhaus zurückgekehrt. Aufs Land. Weil dort Menschen wie er gebraucht werden, spätestens nach dem Studium.

Denn im Kreis Kleve sind 14,5 Hausarztstellen nicht besetzt von rund 190. Damit liegt der Landkreis mit seinen 320.000 Einwohnern im Bereich der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein weit vorne. Allein in der Umgebung der Kreisstadt Kleve mit ihren 50.000 Einwohnern fehlen acht Hausärzte. „Das ist keine neue Entwicklung, dort gibt es schon seit den ersten Berechnungen in den 90er Jahren immer zu wenig Hausärzte“,so ein Sprecher der KV Nordrhein. In den Großstädten an Rhein und Ruhr hingegen gibt es derzeit keine freien Kassensitze für niederlassungswillige Hausärzte. Aber auch das könnte sich ändern.

Eine weitere Entwicklung macht der Kassenärztlichen Vereinigung nicht nur am Niederrhein Sorgen: Die Ärzteschaft ist stark überaltert. Sind landesweit rund 30 Prozent der niedergelassenen Hausärztinnen und Hausärzte jenseits der 60, so sind es in den Kreisen Kleve und Wesel je rund 40 Prozent. Um Nachwuchs für Hausarztpraxen auf dem Land zu gewinnen, gibt es mehrere Ansätze. Zum einen soll der Beruf des Allgemeinmediziners in der Ausbildung einen höheren Stellenwert bekommen. Und bereits im Studium sollen angehende Medizinerinnen und Mediziner mehr Landluft schnuppern

Das Programm „Localhero“ des Landes NRW will, das Medizinstudierende – nun ja - Blut lecken für das Leben als Landärztin oder Landarzt. Die Voraussetzungen dafür sind gut: In der „Hausarztpraxis Bedburg-Hau“ kommt Czarnecki in eine junge Praxis. Anfang 2022 haben Marc Anton Lohmann (46) und Lena Verhasselt (37) ihre Praxis aufgemacht: Helle Räume, moderne Einrichtung im Flachbau des kommunalen Hallenbades, Supermarkt und Apotheke in Sichtweite. Zentral gelegen für eine 13.000-Einwohner-Gemeinde.

Jakub Czarnecki hat bereits sechs Semester Medizin hinter sich, er studiert in Essen, lebt in Duisburg, ist jetzt aber für vier Wochen nach Kleve zurückgekehrt. Dort wuchs er auf und in der Nachbargemeinde Bedburg-Hau macht er sein Praktikum. .
Jakub Czarnecki hat bereits sechs Semester Medizin hinter sich, er studiert in Essen, lebt in Duisburg, ist jetzt aber für vier Wochen nach Kleve zurückgekehrt. Dort wuchs er auf und in der Nachbargemeinde Bedburg-Hau macht er sein Praktikum. . © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Hier ist Jakub Czarnecki seit zehn Tagen im Praktikum – und begeistert: Gestern durfte er Hausbesuche machen, Blut abnehmen - und seinen Ausbildern berichten, wie es den Patienten geht. „Ich wollte mein Praktikum machen, wo ich gut angeleitet werde in einem Umfeld, dass ich kenne“, sagt Czarnecki, der im sechsten Semester in Essen studiert und in Duisburg lebt.

„Unsere Famulanten machen möglichst viel selbstständig, aber alles, was sie tun, wird von uns begleitet“, erklärt Lohmann. Zu tun gibt es genug: Er und seine Kollegin und das fünfköpfige Praxisteam werden von Patienten förmlich überrannt. Rund 2.500 Patientinnen und Patienten betreuen sie pro Quartal.

Ein Hausarzt geht schon auf die 80 zu

„Wir haben zunächst jene Patienten aufgenommen, die keinen Hausarzt hatten und die aus der näheren Umgebung kommen“, so Lohmann. „In Kleve haben wir Hausärzte, die über 70 sind, einer geht sogar auf die 80 zu“, erzählt er. „Hier gibt es keine jungen Ärzte und die alten Hausärzte nehmen keine neuen Patienten mehr an.“ Bitter für viele, die in der zweiten Lebenshälfte merken, dass sie jetzt öfter medizinischen Rat brauchen und Mediziner suchen, die sie ein paar Jahre oder Jahrzehnte begleitet.

Lohmann weiß auch: „Wir können das nicht allein kompensieren.“ Deswegen braucht es mehr junge Ärzte auf dem Land und so haben sie sich ein Jahr nach Praxiseröffnung als Lehrpraxis angemeldet. „Wir wollen Teil der Ausbildung sein, Famulanten und Ärzte im praktischen Jahr aufnehmen“, sagt Verhasselt und lobt: „Das Localhero-Programm ist eine gute Orientierung. Wir wissen, was die Studierenden können sollten und was sie hier lernen müssen.“

Beide loben die Fortbildung durch die Uni und den strukturierten Lehrplan. „Unsere eigenen Hausarztfamulaturen waren mehr nach Bauchgefühl“, erinnert sich Verhasselt. „Wir teilen unsere Erfahrungen gern und wir lernen auch viel von den Studierenden.“ Und natürlich haben sie im Hinterkopf: „Wir hoffen Ärzte zu gewinnen auch für unser Gebiet.“

Ärztepaar und Famulanten: alle vier sind Niederrheiner

Beide Ärzte und Beide Ärzte und beide Praktikanten haben Wurzeln am Niederrhein – kein Zufall. „Ich kenne keinen von extern, der sich hier niedergelassen hat. Die haben alle eine Verbindung zum Niederrhein“, sagt Lohmann. Er genießt es, mit dem Fahrrad sechs Kilometer zur Praxis zu fahren. „Manchmal jogge ich auch.“ Eine eigene Praxis wollt er nicht immer, jetzt aber entdeckt er die Vorteile: „Wir suchen im Team unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus, wir können uns so organisieren wie wir das mögen.“

: Arina Lokschin und Jakub Czarnecki dürfen in der Hausarztpraxis Bedburg-Hau eigenständig Patienten untersuchen und eine Verdachtsdiagnose stellen im eigenen Behandlungszimmer. Danach gibt es das Gespräch mit den „echten“ Hausärzten.
: Arina Lokschin und Jakub Czarnecki dürfen in der Hausarztpraxis Bedburg-Hau eigenständig Patienten untersuchen und eine Verdachtsdiagnose stellen im eigenen Behandlungszimmer. Danach gibt es das Gespräch mit den „echten“ Hausärzten. © FUNKE Foto Services | Ralf Rottmann

Und wie findet der Student den Verzicht aufs Stadtleben? „Ich finde es hier schöner, weil es persönlicher ist“, sagt Czarnecki. Neben ihm ist noch eine zweite Famulatin im Einsatz: Arina Lokschin studiert in Münster - ohne Localhero-Begleitprogramm. Bei Lohmann und Verhasselt haben die Studierenden eigene Behandlungszimmer, sie untersuchen, dokumentieren Symptome, stellen eine Verdachtsdiagnose - und dann Patientin oder Patient ihren Ausbildern vor. Czarnecki hat eine Checkliste, die er abarbeitet: Einen Patienten mit Atemwegsinfekten sehen. Kein Problem. Impfgespräch führen - und impfen und vieles mehr.

„Medizin ist viel Handwerk und viel Erfahrung“, sagt Lohmann. Czarnecki ist beeindruckt: „Wenn ich allein eine Diagnose stellen müsste, würde mir das schon Kopfschmerzen machen“. Aber er sagt auch: „Ich kann mir vorstellen, später einmal so zu arbeiten. Vorher will ich aber auf jeden Fall in einer Klinik tätig sein.“

Lohmann und Verhasselt machen manches anders. Hausbesuche gibt es so gut wie nicht. „Nur bei denen, wo es wirklich nicht anders geht.“ Arbeitszeit ist zu kostbar, um sie hinterm Lenkrad zu verbringen.: „Wir machen nicht Landarztfolklore mit Erreichbarkeit rund um die Uhr“, stellt Lohmann klar. „Die Arbeitsdichte ist hoch - da braucht man seine Auszeit, sonst verbrennt man“, sagt Lohmann. Nutzt keinem, wenn der Landarzt sich krank arbeitet.

In Bocholt gibt es jetzt sogar eine „Famulatur-WG“

Seit dem Wintersemester 2021/22 gibt es das Landarztprogramm „Localhero“ zu deutsch also: Dorfheld, mit dem die Universitäten Duisburg-Essen, Bochum und Witten-Herdecke teilnehmen. Es versucht, den eklatanten Medizinermangel auf dem Lande abzufangen.

Die Therapie hat zwei Ansätze: Zum einen hat – in allen Medizinstudiengängen – die Allgemeinmedizin einen deutlich höheren Stellenwert bekommen. Zuvor galt die Spezialisierung als Schlüssel zum Erfolg. Der Allrounder war kaum gefragt.

Genau den brauchen die Menschen jedoch am häufigsten, nicht nur auf dem Land. Von Schnupfen bis Schlaganfall und von der Vorsorge bei jungen Erwachsenen bis zur Palliativmedizin am Ende des Lebens – die Allgemeinmediziner begleiten Menschen in allen Lebenslagen. Um das Landarztleben besser kennenzulernen, sind künftig mehr „Famulaturen“ – so heißen Praktika bei Mediziner*innen – in der Allgemeinmedizin vorgesehen.

In Bocholt gibt es jetzt sogar eine „Famulatur-WG“: sechs Ärztinnen und Ärzte wohnen für die Dauer des Praktikums zusammen in einer Ferienwohnung, können sich so über ihre Erfahrungen austauschen und gemeinsam erkunden, ob Bocholt ein künftiger Lebens- und Arbeitsmittelpunkt werden könnte. Dabei sind die Studierenden auch bei Hausärztinnen und Hausärzten zum Beispiel in Isselburg oder Rhede im Einsatz, so Bolland.

Das Localhero-Programm kommt offenbar an: für die ersten 13 Plätze, die die Uni Duisburg-Essen anbot, gab es deutlich mehr Bewerberinnen und Bewerber. Wer in der ersten Runde nicht aufs Land durfte, wird im Sommer seine Erfahrungen auf dem Land machen können.