An Rhein und Ruhr. In den nächsten Monaten werden Schöffen für die Jahre 2024 bis 2028 ausgewählt. Warum ausgerechnet NRWs oberster Schöffe die Wahl kritisch sieht.
Mit einer großen Werbekampagne auf Plakatwänden und im Internet wird aktuell für die „Schöffenwahl 2023“ geworben. Knapp 10.000 ehrenamtliche Richterinnen und Richter werden in NRW benötigt. Nicht überall finden sich genügend Kandidaten. „Wir haben erstmals Mittel bekommen, um vor allem im Internet auf die Schöffenwahl aufmerksam zu machen“, so Michael Haßdenteufel, Vorsitzender des Landesverbandes NRW der Deutschen Vereinigung der Schöffinnen und Schöffen.
Die Werbung ist aus seiner Sicht nötig. „Wir haben vor allem in den großen Städten oft nicht genügend Bewerber“, so Haßdenteufel. Folge: Kommunen ziehen oft Personen aus dem Melderegister. Und die haben keine Wahl. Denn: Schöffe sein ist eine Pflicht, die man nur in Ausnahmefällen ablehnen kann. „Die Politiker, die die Schöffen wählen, wissen aber nicht, ob sich jemand beworben hat oder verpflichtet wurde“, so Haßdenteufel.
Das Verfahren ist ohnehin kompliziert: Rat oder Jugendhilfeausschuss wählen im Geheimen doppelt so viele Kandidaten wie Schöffen und Jugendschöffen benötigt werden. Gibt es keine Widersprüche nach Veröffentlichung der Namen, wandert das Paket zum Amtsgericht, wo Richter und Vertrauensleute die Schöffen wählen.
„Wir sind Detektive der Vergangenheit“
Georg Schrepper beispielsweise wurde durch seinen Schwager angefixt. „Der hat mir davon erzählt und dann habe ich mich als Schöffe beworben“, erzählt er. Seit 2019 ist der Gymnasiallehrer einer von rund 10.000 ehrenamtlichen Richtern in NRW. „Das ist das, was ich meinen Schülern im Geschichtsunterricht beibringe: Einen Sachverhalt von verschiedenen Seiten sehen“, erklärt er. „Wir sind so etwas wie Detektive der Vergangenheit, versuchen zu klären, was geschehen ist.“
Und das möglichst unvoreingenommen: Schöffinnen und Schöffen bilden sich ihr Urteil „aus dem Eindruck der Hauptverhandlung“, wie es heißt: Sie bekommen in der Regel keine Akteneinsicht, sondern hören nur, was Angeklagte, Verteidiger, Staatsanwaltschaft, Zeugen und Sachverständige vortragen. Schrepper ist ein Schöffe, der öfter mal nachfragt – was bei den Laienrichtern eher nicht die Regel ist.
Nach der Verhandlung, wenn Richter und Schöffen beraten, zählt seine Stimme genauso viel wie die des Berufsrichters. Heißt: Gegen den Willen der Schöffen gibt es kein Urteil. Denn dazu braucht es eine Zweidrittel-Mehrheit auf der Richterbank. Selbst bei einer Großen Strafkammer, wo drei hauptamtliche Richter zusammen mit zwei Schöffen sitzen, können diese ein Urteil zumindest blockieren.
„Ist mir noch nicht passiert“, sagt Schrepper. Meist finden ehrenamtliche und hauptamtliche Richter gemeinsame Voten. Bei einem Urteil wegen Körperverletzung gingen die Meinungen jedoch auseinander: Offen war, ob der Verurteilte bis zum Haftantritt freikommt. „Er war Flüchtling, Mitte 30, hatte Familie überall in Europa und keine Bindung in Essen – warum sollte der brav aufs Gefängnis warten?“ Das gab Schrepper zu Bedenken. Und so einigte sich die Kammer am Ende: Der Verurteilte blieb nach dem Urteil direkt weiter in Haft.
Mit wem Schrepper im Kalenderjahr an bis zu zwölf Verhandlungstagen seine Urteile fällt, wird ausgelost – genauso wie sein Schöffenpartner oder seine Schöffenpartnerin. „Erst war ich in einer Berufungskammer, dann in einer Landgerichtskammer für allgemeine Strafsachen und jetzt in der Kammer für Wirtschaftsstrafsachen.“ Kenntnisse in Jura und Wirtschaft braucht er nicht – Schöffen sollen ja gerade sicherstellen, dass Urteile nicht von Experten, sondern „im Namen des Volkes“ gesprochen werden. „Aber ich habe mir als erstes das Strafgesetzbuch und die Strafprozessordnung aufs Smartphone geladen“, sagt Schrepper.
„Ich bin 56 und hatte noch nie einen jüngeren Schöffen als Partner“
Zweifel daran, dass die Schöffinnen und Schöffen das ganze Volk repräsentieren, hat er auch. „Ich bin jetzt 56“, sagt er „und hatte noch nie einen Jüngeren als Schöffenpartner“. Ein Eindruck, den der Vorsitzende des Laienrichterverbandes in NRW, Michael Haßdenteufel, unterstreicht: „Der Altersschnitt liegt bei 50 plus, es fehlen Menschen mit Migrationserfahrungen und jüngere Frauen.“ Problem: Es gibt für Schöffinnen keinen Mutterschutz. Bis zum Oktober des Vorjahres können Schöffinnen und Schöffen um Beurlaubung für das kommende Jahr bitten. Mit bis zu 15 Monaten Vorlauf eine Niederkunft zu planen – nicht einfach.
„Zu Beginn eines Jahres bekommen Schöffen ihre Termine“, so Haßdenteufel, selbst als Schöffe in Düsseldorf tätig. „Da muss man schon eine Urlaubsbuchung nachweisen, um einen Termin ablehnen zu können.“ Und: Verhandlungen können Fortsetzungen nach sich ziehen. Im Mammutprozess wie derzeit gegen Thomas Drach in Köln werden es mehr als 60 Verhandlungstage in über 16 Monaten sein. Vier Schöffinnen und Schöffen sind verpflichtet: Zwei Ergänzungsschöffen verfolgen die Sitzungen von Anfang an, falls ein Hauptschöffe ausfällt.
Lange Verfahren hat Schrepper nicht, im Gegenteil: „In den Coronajahren hatte ich fast nichts zu tun.“ Noch einen Vorteil hat er: Als Beschäftigter im öffentlichen Dienst ist er fürs Schöffenamt bei vollen Bezügen freigestellt. Ansonsten müssen Arbeitgeber damit leben, dass der Schöffe freizustellen ist. Als Ausgleich gibt es maximal 29 Euro vom Staat. Der Schöffe bekommt sieben Euro pro Stunde als Entschädigung, plus Fahrtkosten. „Letztens bin ich nach einem ganzen Tag hier mit 35,42 Euro rausgegangen“, sagt Schrepper. Seine Bewerbung für die Wahl hat er dennoch eingereicht. „Dieses Mal habe ich mich als Jugendschöffe beworben“, erzählt der 56-Jährige.
Weil er eben doch im Namen des Volkes mitspricht. Und dem Betrüger aus Essen, der Handys verkaufte, die er gar nicht hatte, zur Bewährung verhilft. „Der hatte gerade einen Job gefunden und eine Wohnung. Wäre der ins Gefängnis gegangen, hätte er wieder vor dem Nichts gestanden.“
In Essen beispielsweise werden 1606 Vorschläge benötigt, 700 Bewerbungen liegen bis jetzt vor. Bliebe es dabei, würden 900 Menschen ausgelost. Die Stadt setzt darauf, dass sich die Liste noch füllt. „Sonst sitzt jemand auf der Richterbank, der da nicht hinwollte. Während jemand, der sich bewirbt, nicht gewählt wird“, kritisiert Haßdenteufel. „Etwa jeder fünfte Schöffe in NRW sitzt nicht freiwillig auf der Richterbank.“ Seine Idee: Wenn die Mindestzahl der Bewerber erreicht ist, sollte auf „Pflichtschöffen“ verzichtet werden. Und: „Die Wahl sollte öffentlich sein.“ Schließlich sollen die Laienrichter „Volkes Stimme“ repräsentieren – und das in möglichst großer Vielfalt. Und nicht immer ist die Stimmung auf der Richterbank harmonisch, wie ein heftiger Krach zwischen hauptberuflichen Richtern und Schöffen am Landgericht Essen in 2020 zeigte.
Daher kann jede und jeder Deutsche zwischen 25 und 70 Schöffe werden. Schöffinnen und Schöffen halten sich im Bundesschnitt etwa die Waage. Doch die Statistik über Beruf und Alter wurde vor 25 Jahren abgeschafft. „Der Verzicht (...) verschleiert eine Entwicklung, die zuvor über Jahre zu beobachten war. Der Anteil der Selbstständigen im Schöffenamt sank kontinuierlich, während die Präsenz der Angehörigen des öffentlichen Dienstes ständig wuchs“, so Hasso Lieber.
Der Jurist aus Witten war rund 25 Jahre Vorsitzender des Bundesverbandes ehrenamtlicher Richterinnen und Richter. „Die soziale Kluft zwischen der Bank der Angeklagten und dem Richtertisch dürfte in den letzten zwei Jahrzehnten jedoch kaum kleiner geworden sein. Nichtwissen erspart somit ein schlechtes Gewissen sowie die Notwendigkeit politischen Handelns“, so seine Bewertung. Geändert hat sich nichts – bis auf die Werbung.
Und so ist die Lage in den Kommunen:
Die Kommunen an Rhein und Ruhr sind zuversichtlich, ausreichend Wahlvorschläge zu bekommen. Besonders viele Schöffen werden in Düsseldorf gesucht: 1522 Kandidaten für 761 Schöffenämter werden gebraucht, dazu 692 für die 346 Jugendschöffenämter. 751 Bewerbungen liegen vor, bei den Jugendschöffen sind es 173. Jugendschöffen sollen pädagogische Kenntnisse haben.
In Essen gibt es für 1606 Kandidatenplätze bislang 700 Bewerber, in Duisburg sind es 450 Bewerber bei 626 Plätzen, in Oberhausen 135 bei 292 Stellen, davon ein Viertel unter 50. Noch besser sieht es in Moers aus, wo 154 Bewerbungen für 120 Stellen vorliegen, die Hälfte jünger als 50. Mülheim hat bereits 154 Bewerber für 120 Schöffenstellen.
In Kleve werden 162 Schöffen und 88 Jugendschöffen benötigt, beworben haben sich 96 Menschen fürs Schöffenamt und nur sechs als Jugendschöffe, weitere 36 Kandidaten stehen jedoch für beide Ämter zur Verfügung.
In Wesel gibt es bislang 31 Bewerbungen, 42 werden gebraucht bei den Schöffen, für die 18 Plätze auf der Liste für Jugendschöffen stehen bislang erst sieben Namen.