Leiden. In ihrer „Gebrauchsanweisung für die Niederlande“ hinterfragt Autorin Kerstin Schweighöfer Holland-Klischees und warnt vor einigen Fettnäpfchen.
Aus dem tiefen Süden Deutschlands in den niederländischen Norden – diesen Weg ist Autorin Kerstin Schweighöfer vor gut 30 Jahren gegangen. Seitdem hat sie so einiges über Fettnäpfchen gelernt, den ein oder anderen Holland-Mythos entzaubert und Klischees über die Niederlande und Deutschland auf die Probe gestellt.
Wieso das Leben in Holland dem Frankreich-Fan anfänglich gar nicht so leicht fiel, vieles im vermeintlichen Idyll der Windmühlen und Tulpen anders als erwartet ist und die Niederlande dennoch zur Wahlheimat wurden, erzählt Kerstin Schweighöfer Redakteurin Madeleine Hesse im Interview. Dabei stellt die in Leiden ansässige Auslandskorrespondentin ihr neuestes Buch vor – eine „Gebrauchsanweisung für die Niederlande“. Sie wollen ein Exemplar gewinnen? Dann machen Sie mit bei unserer Verlosung!
Frau Schweighöfer, der Austausch über die Grenze ist sehr eng. Wieso benötigen Niederlande-Fans aus NRW noch eine Gebrauchsanweisung?
Kerstin Schweighöfer: Es ist immer angebracht, über ein Nachbarland gut informiert zu sein – erst recht, wenn es dunkle Kapitel in der Geschichte gibt, in diesem Falle die deutsche Besatzungszeit. Der Zweite Weltkrieg ist zwar immer weniger ein Thema, aber die Schmerzgrenze ist nach wie vor niedrig – ‘gevoelig’, wie das in den Niederlanden heißt.
Wo sollte man noch aufpassen?
Deutsche gelten noch immer schnell als laut, humorlos und arrogant. Zum Beispiel, wenn sie automatisch davon ausgehen, dass man sie versteht, wenn sie Deutsch reden – dass sie sich also nicht die Mühe machen, es selbst in einer Fremdsprache zu versuchen. Solche Klischees sollte man lieber nicht bedienen. Garantiert alle Sympathien verscherzt man sich übrigens, wenn man Nederlands als deutschen Dialekt bezeichnet. Wir sehen die Niederländer gerne als drollig und putzig, doch sie wollen für voll genommen werden – erst recht von einer Nation, die sie vor rund 80 Jahren überfallen und besetzt hat. Ich denke, auch Leser in NRW, die die Niederlande zu kennen glauben, können in meinem Buch noch einiges entdecken und Neues erfahren.
Warum sind Sie eigentlich im Nachbarland gelandet?
Ich komme vom Bodensee, für mich waren die Niederlande wirklich ganz weit weg und geradezu exotisch! Ich war immer sehr frankophil und träumte eigentlich von Paris. Doch dann lief mir bei einem Sprachkurs im tiefsten Spanien ein hochblonder Holländer über den Weg – und so wurden es statt Eiffelturm Windmühlen und Deiche.
Wie schnell haben Sie auch die Niederlande liebengelernt?
Ein bisschen hat das schon gedauert. Ich musste das Land ja erst kennenlernen – wie gesagt: Für mich als Süddeutsche war es sehr weit weg. Über die Direktheit der Menschen habe ich am meisten gestaunt, daran musste ich mich erst einmal gewöhnen. Zunächst lebte ich wohlgemerkt nicht in Holland, sondern in der Provinz Noord-Brabant. Der katholische Süden der Niederlande ist völlig anders als der calvinistische Norden. Es hat mich überrascht, dass in einem kleinen Land die Kontraste so stark sein können. In Noord-Brabant und auch in Limburg wird Lebenslust groß geschrieben und viel mehr gefeiert. Später bin ich Richtung Den Haag gezogen und habe gemerkt: Im Norden herrscht eine andere Mentalität, hier wird gearbeitet.
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In welche Fettnäpfchen sind Sie am Anfang selbst getreten, vor denen Sie vielleicht eine Gebrauchsanweisung bewahrt hätte?
Sprachlich bin ich am Anfang natürlich in das ein oder andere Fettnäpfchen getreten. Vor meinem Umzug habe ich mich aber gut vorbereitet. Ich bin Anfang der 90er Jahre in die Niederlande gekommen und war auf der Hut. Deutsche Klischees wollte ich auf keinen Fall bedienen. Deutsche mussten damals noch auf Zehenspitzen gehen. Auch ich habe noch Sticheleien und blöde Sprüche miterlebt, einmal sogar einen Hitlergruß. Aber das ist inzwischen fast gar kein Thema mehr, junge Niederländerinnen und Niederländer denken bei Deutschland nicht mehr als erstes an Krieg und Besatzungszeit. Ein großes Fettnäpfchen sollte man aber dringend vermeiden: In Rotterdam nach dem Weg zur Altstadt fragen. Die wurde von deutschen Bombern im Zweiten Weltkrieg ausradiert.
Welche Klischees haben sich im Laufe der Zeit für Sie erfüllt?
Dass es in den Niederlanden weniger formell und direkter zugeht, stimmt wirklich. Die Menschen sind entspannter und gelassener und haben weniger Respekt vor Autoritäten. Man wird weniger bevormundet, und alle duzen sich sofort.
Und welche Klischees stimmen einfach nicht?
Die Niederländerinnen gelten etwa als sehr selbstbewusst und emanzipiert, aber in Wirklichkeit sind sie sehr traditionell: Das Geld verdient hinterm Deich immer noch der Mann! Nirgendwo in Europa arbeiten die Frauen so wenig wie hier. Schuld daran ist die hohe Teilzeitarbeitsquote – darin sind die Niederländerinnen Weltmeisterinnen. Was auch nicht stimmt, ist das saubere Image der Niederlande. Tulpen und Käse aus Holland stehen bei uns Deutschen hoch im Kurs. Doch die Niederlande zahlen einen hohen Preis für ihre extrem intensive Landwirtschaft, das geht auf Kosten von Umwelt, Gesundheit und Tierwohl.
Trotz anfänglichen Fremdelns leben Sie nun schon 30 Jahre in den Niederlanden. Was hat Sie auf Dauer am Land fasziniert?
Ich finde die Menschen sehr liebenswert. Nach den Maßstäben ihrer Nachbarn in Deutschland oder Belgien gelten sie zwar zuweilen als ruppig. Aber sie sind auch sehr hilfsbereit. Zwar ist hier der Kunde nicht immer König, worüber sich Deutsche gerne beschweren. Doch der Menschenschlag ist sehr offen. Als Radioreporterin bekomme ich hier viel leichter Leute vors Mikro. Die Niederländer haben zu allem eine Meinung und teilen sie gerne.
Was gefällt Ihnen noch am Nachbarland?
Was mich als Deutsche aus dem konservativen Süden auch überzeugt hat, ist der niederländische Pragmatismus und der Drang nach Transparenz. Von Verboten wird deshalb nicht so viel gehalten. Es könnte ja trotzdem weiterhin geschehen, aber dann heimlich und nicht mehr kontrollierbar, dann ist es nicht mehr transparent. Da ist durchaus was dran. Das hat zur Politik des ‘gedogens’ – also des Duldens – geführt, ein Schlüsselbegriff in der niederländischen Gesellschaft.
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Können Sie das genauer erklären?
Obwohl etwas verboten ist, wird es geduldet – ‘gedoogd’. So wie die weichen Drogen zum Beispiel, also das Kiffen. Dennoch zeigt sich beim genaueren Blick in die niederländische Gesellschaft und Gesetzgebung, dass im Nachbarland gar nicht alles so locker und pragmatisch ist.
Was beobachten Sie vor Ort?
Da gibt es viele Widersprüche: Einerseits gilt bei vielen Dingen die pragmatische Politik des Duldens, andererseits wird oft ganz hart durchgegriffen: Die Geldbußen sind hoch, etwa fürs Gassigehen ohne Leine, Falschparken oder Wildpinkeln. Man sollte nicht davon ausgehen, dass in den Niederlanden überall ein Auge zugedrückt wird – das kann einen teuer zu stehen kommen. Und so wie viele Länder stehen auch die Niederlande vor großen Problemen: Klima- und Umweltschutz zum Beispiel. Die Wohnungsnot ist extrem, es gibt eine Stickstoffkrise, die das Land lähmt. Asylbewerbern kann aufgrund von Einsparungen kein anständiges Dach mehr über dem Kopf verschafft werden. Überall sind Baustellen – das Erbe des Neoliberalismus wiegt auch hinter den Deichen schwer.
Und doch hat das Nachbarland viele Fans in Deutschland, insbesondere wegen der bekannten Urlaubsziele. Welche Geheimtipps haben Sie für alle, die sich im Land bereits gut auskennen?
Durch den Osten des Landes fahren viele auf dem Weg zur Küste einfach durch. Doch es gibt dort tolle Städte wie Zutphen, Deventer oder Zwolle. Am Flüsschen Vecht nördlich von Utrecht ist es sehr malerisch. Unterschätzt sind auch Breda und Den Bosch in Noord-Brabant, dort kann man unglaublich gut essen gehen. Die historischen Innenstädte sind natürlich wunderschön. Auch Amsterdam hat überraschende Seiten zu bieten: Der neue Norden hinterm Hauptbahnhof ist völlig anders als der bekannte Grachtengürtel im Süden – ein Kontrastprogramm mit viel aufregender Architektur.