Essen. Vor vier Jahren versagten die Nieren von Rebecca. Ihr Vater ist einer von rund 1400 Nierenspendern im Land. Hier ist ihre emotionale Geschichte.

Endlich schläft sie, fünf Tage nach der Operation. „Sie ist eine Engel“, flüstert Ahmed. Er ist Medizinstudent aus Palästina, kaum älter als meine Tochter und ihre Nachtwache. Er steht neben ihrem Bett im Halbdunkel. Ich widerspreche nicht. Klar ist sie ein Engel. Nur: Engel haben es auf Erden manchmal schwer. Rebecca hat vor fünf Tagen meine linke Niere bekommen. „Eine Wanderniere“, hab ich ihr erklärt. Heute, knapp vier Jahre danach, kann ich die Geschichte erzählen. Weil wir ein gutes Weihnachten haben werden. „Ruhiges Fahrwasser“, hat der Nierendoktor Anfang der Adventszeit gesagt.

Wenn ich Rebecca treffe, dauert es keine drei Minuten, bis sie sich zum ersten Mal mit der Hand über ihren Bauch streicht und gebärdet: „Mein Bauch klappt.“ Es war weiß Gott oft genug anders. Rebecca hat einen angeborenen Gendefekt, ein so genanntes Wolf-Hirschhorn-Syndrom. Vieles in ihrem Körper funktioniert nicht wie gewohnt. Ihr Herz wurde geflickt, ihr Schädel neu zusammengesetzt, sie braucht Brille und Hörgeräte, spricht wenig, gebärdet reichlich, ist ein lebendes Antidepressivum, mag Schaukeln und Umarmungen und alles was rot ist, Leberwurst und Erdbeereis.

Davon ist in diesem Nächten keine Rede. Auch nicht bei Ahmed. Er will Nierenfachmann werden. „Das Herz ist nur ein Muskel“, sagt er. „Doch die Niere ist ein Wunder.“ Ich habe es Rebecca eher so erklärt: In deinem Körper sind die Adern so etwas wie Straßen. Da fährt die Müllabfuhr und sammelt den Abfall ein. Die Niere ist der Recyclinghof: Der Müll kommt ins Urin, der Rest wird wieder verwertet.

Der Tod der Mutter ging ihr an die Nieren

Rebeccas Müllsortierung ist aus dem Tritt gekommen. Vielleicht ist ihr der Tod der Mutter, gut zwei Jahre zuvor, an die Nieren gegangen ist. Doch schon vorher verschlechterte sich ihre Nierenfunktion. Rebecca musste strenge Diät halten. Keine Leberwurst, wenig Erdbeereis – und wenn, dann ohne Milch. Tabellen mit Kalium- und Nitratwerten waren tägliche Lektüre. Rebecca konnte nie unbeschwert essen. Trinken durfte sie wahlweise Wasser oder Tee. Dennoch sagte ihr Nierenarzt, dass sie an die Dialyse muss – oder eine Niere braucht.

„Warteliste“, sagt er und schaut mich an. „Oder wollen Sie spenden?“ Die Frage habe ich über Jahre kommen sehen, aber bei der Antwort ist es so, wie wenn der Kumpel fragt, ob man am Wochenende Bock hat, beim Umzug zu helfen. Also, im Prinzip gern, aber der Rücken. Und das Wetter. Und ausgerechnet jetzt passt es wirklich nicht.

Die Operation ist geschafft - das kleine Wunder perfekt!
Die Operation ist geschafft - das kleine Wunder perfekt! © Privat

Nicht jetzt, aber bald, sagt der Arzt. In Deutschland werden Jahr für Jahr 2000 Nieren verpflanzt, immer noch viel zu wenige. In etwa 1400 Fällen stammt das Organ von einem lebenden Spender. Er oder sie muss gesund sein und in einer engen emotionalen Verbindung zu Empfängerin oder Empfänger stehen. Darüber wacht eine Ethikkommission der Ärztekammer. Am häufigsten spenden Geschwister und Eltern für Kinder – oder umgekehrt.

Ich brauche Bedenkzeit. Irgendwann telefoniere ich mit einem anderen Elternpaar mit Wolf-Hirschhorn-Kind, das sich gegen die Nierenspende entschieden hat. Dialyse schlaucht, verkürzt das Leben. „Ist halt so, wir haben noch andere Kinder.“ Das Bild bekomme ich nicht mehr aus dem Kopf: Leben mit dem Wissen: Meine Tochter muss sich für den Rest ihres verkürzten Lebens zwei, drei Mal in der Woche zur Blutwäsche begeben und still liegen. Für Stunden. Ungefähr das, was sie am schlechtesten kann.

Ich willige ein, wird schon. Schließlich kann man als Nierenspender Bundespräsident werden. Meine Belohnung: eine Führung durch alle Gebäude des Uni-Klinikums Essen außer der Gynäkologie. Der Preis: zwei Dutzend Röhrchen mit Blut. Inbegriffen: die Erkundungen sämtlicher Körperöffnungen und aller Röhren von Röntgen über CT und MRT, teilweise mit Kontrastmitteln. Dazu Ultraschall und Ergometer. Untersuchung auf Herz und – logo – Nieren. Organspender leben länger, sagt die Wissenschaft. Im Kleingedruckten: Weil sie zum Zeitpunkt der Spende gesünder sind als der Durchschnitt.

Bevor die Nieren versagen, stirbt man an was anderem

Ärzte sind Menschen, die Zynismus und Trost wunderbar in einen einzigen Satz packen können, so auch der Chefarzt: „Wir werden irgendwann alle an Nierenversagen sterben, nur die meisten von uns sind dann schon wegen irgendwas anderem tot.“ Bei meinen beiden Nieren ist er sicher, dass sie beide noch ein paar Jahrzehnte arbeiten – egal in welchem Körper.

Am Ende der Untersuchungen will eine Assistentin noch ein Röhrchen Blut. Stimmt was nicht? Die MTA grinst: „Sie wurden fast nur von Frauen untersucht. Wir haben die Prostata vergessen.“ Auch die zickt nicht, ich darf spenden. Ist nicht selbstverständlich. Lange Zeit war es indiskutabel, einen gesunden Mensch zu operieren.

Na ja, gesunde Menschen springen auch aus Flugzeugen. Und die moderne Medizin ist mein Fallschirm. Meine Frage ist eher: Passt das überhaupt? Mit dem Durchmesser von Adern und Harnleitern? Und hat die Niere eines – ähem – 80-Kilo-Mannes im Bauch einer zierlichen 30-Kilo-Frau Platz? Die Oberärztin ist sicher: „Frauenbäuche sind von Natur aus darauf eingerichtet, zusätzlichen Raum zu bieten.“ wahr. Und was ist mit dem Immunsystem? „Besser eine frische Lebendspende als eine perfekt übereinstimmende Leichenniere“, lautet die Antwort der Experten.

Tja - und dann kam das Amtsgericht. Darf Rebecca entscheiden, ob sie eine Niere bekommt - oder ihr gesetzlicher Betreuer, der Vormund, der gleichzeitig ihr Vater ist? Das Amtsgericht wollte mitreden, ließ Rebecca begutachten – und diese legte der Gutachterin wortlos diese Zettel hin. Danach war es weitgehend klar. Überraschend nur, dass nicht das Gericht, sondern Rebecca die Gutachten zahlen sollte.

Nun ja. Zu Rebeccas Begabungen gehört es, Dinge leicht zu nehmen, über die sich andere Menschen viele Gedanken machen. Rebecca lebt mit einem Wolf-Hirschhorn-Syndrom, Menschen mit dieser genetischen Veränderung haben vielfältige neurologische und organische Probleme. Rebecca beispielsweise spricht nicht, wiegt mit 25 Jahren etwas mehr als 30 Kilo und ist 1,35 Meter groß, besucht eine Förderschule und lebt in einer inklusiven Wohngemeinschaft in Essen. Mit Papa in die Klinik, mit Clara, der Puppe, mit ihrer Inklusionshelferin und meiner Partnerin, die sie als neue Mutter adoptiert hat, ist es für sie ein Abenteuer. Wichtig ist, dass es ein Bett gibt, eine Toilette und vielleicht Leberwurst.

Der Narkosearzt spricht von Lebertransplantation

Gibt es. Auch am Vorabend der Operation. Dass der Narkosearzt im Vorgespräch ständig von einer Lebertransplantation redet, macht mich ein bisschen nervös. Aber netterweise fragen Menschen in blauen Kitteln direkt vorm OP noch mal, warum sich da hat dahinkarren lassen. Ob ich immer noch spenden will. „Ja, aber eine Niere“. Dann wird es dunkel. Die Uhr im Aufwachraum präge ich mir ein. Vier Stunden fehlen mir am Ende. Und eine Niere. Aber davon merke ich nichts. Dank der Medikamente. Und - toitoitoi – das hat sich bis heute nicht geändert. Die einsame Niere wächst mit ihren Aufgaben.

Rebecca hat es schwerer, kämpft gegen Kabel und Übelkeit, gegen die Ärzte, die sie festhalten wollen, weil sie die Kabel ziehen will. Sie ist – was extrem selten ist – schlecht gelaunt und braucht drei Tage bis zum ersten Lächeln. Und schläft kaum. Bis zur Nacht mit Ahmed.

Jahresinspektion: Mindestens einmal im Jahr kommen Spender und Empfänger des Organs zur Kontrolluntersuchung ins Uni-Klinikum.
Jahresinspektion: Mindestens einmal im Jahr kommen Spender und Empfänger des Organs zur Kontrolluntersuchung ins Uni-Klinikum. © FUNKE Foto Services | Thomas Goedde

Doch während mich Ahmed fragt, was mit ihren Nieren war und was nun wird, wird sie doch wieder unruhig. „Was macht sie, was macht sie?“ Ahmed wird nervös. „Wäre schön, du hilfst ihr. Sie mag zwar ein Engel sein, Ahmed, aber zum Klo muss sie doch.“ Der Wanderniere sei Dank. Es ist wirklich ein Wunder.

Rebecca wird einige davon brauchen. Wenige Tage später entdeckt ihr Immunsystem den Zuwanderer. „Fulminante Abstoßung“ nennen das die Ärzte. Mehrere Wochen kämpft ihr Körper gegen die Niere und die Ärzte. Die Ärzte gewinnen: die Niere bleibt, wo sie ist. Rebeccas 3:1 fürs Leben – dank eines guten Dutzend Pillen und Pulver, die sie nun für immer nehmen wird, die ihr viele Haare rauben und Diabetes machen.

Mehr als ein halbes Jahr Hoffen und Bangen und immer wieder in Klinikbesuche. Dann, allmählich gewöhnen sie sich aneinander: Die ältere Niere und der neue Körper. Es ist wirklich ein Wunder, die Niere, die moderne Medizin. Und dass Rebecca an diesem Weihnachten Leberwurst essen wird. Und Kartoffelknödel und Erdbeereis. Hauptssache, ihr Bauch klappt.