Erwachsen werden heißt: Sich die Welt aneignen und alleine klar kommen. Doch was, wenn ein behinderter Mensch plötzlich erwachsen werden muss?

Eltern lernen von ihren Kindern. Und die schwierigste Lektion, die sie lernen müssen, ist wohl diese: Sich überflüssig zu machen. Rebecca ist jetzt 20 geworden. Sie kann nicht sprechen, aber gebärden. Sie weiß nicht, wofür Geld da ist, geht aber gern einkaufen. Sie kann nicht unterscheiden, wer arm oder reich, schwul oder hetero, In- oder Ausländer ist, will aber alle umarmen. Sie geht davon aus, dass alle Welt sie mag, ist aber oft furchtbar anstrengend. Und sie ist meine Tochter.

Seit zwei Jahrzehnten versuche ich zu verstehen, wie die Welt wohl aus ihren ziemlich schrägen und sehr fehlsichtigen Augen aussieht. Aus 135 Zentimetern Höhe, mit dem Aussehen eines jungen Teenagers. Wie bildet sich unsere chaotische Erwachsenenwelt wohl in ihrem Kopf ab?

Rebecca und wie sie die Welt sieht

Rebecca und wie sie die Welt sieht, ist für mich immer wieder eine Reise in ein Wunderland, ein Land, in dem Geld und Glamour nicht viel wert sind, Zeit und Spaß haben hingegen schon. Doch das gelingt nicht immer. So wie Alices Reise ins Wunderland so ist Rebeccas zweites Lebensjahrzehnt geprägt von Stürzen, von Abgründen, von Konfrontationen, die man jedem Menschen gern ersparen würde, die aber wohl zum Erwachsenwerden dazugehören.

Die WG hat ihr eine Eistorte gebacken und den Tisch gedeckt. Und auf ihren Wunsch ungefähr zwölfmal „Viel Glück und viel Segen“ intoniert.  
Die WG hat ihr eine Eistorte gebacken und den Tisch gedeckt. Und auf ihren Wunsch ungefähr zwölfmal „Viel Glück und viel Segen“ intoniert.   © herm

Waren ihre ersten zehn Jahre ein Aufstieg, beschwerlich, aber es ging aufwärts, so merkt sie: Es gibt Abgründe, in die niemand schauen will. Vor wenigen Wochen war Rebeccas zwanzigster Geburtstag. Und es war der erste ohne ihre Mutter. Ohne den Menschen, der ihre stotternden, unscharfen Gebärden am besten verstand und deuten konnte. Ohne den Menschen, der den liebevollsten Fehler aller Eltern gemacht hat: Tag und Nacht für sein Kind da sein zu wollen. Über alle Kräfte hinaus, die ein Mensch besitzt. Maria wollte ihr Kind schützen und bewahren und hat darüber sich selbst verloren.

Und mich auch. Ich habe sie verlassen, vor mittlerweile acht Jahren. Wegen vielem, darunter: weil ich mich – ganz egoistisch – verlassen gefühlt habe. Weil Mutter und Kind, wie auf den tausenden Weihnachtsbildern, eine Einheit bilden. Der hölzerne Josef steht meist nur noch in der Ecke.

Nun löst Weggehen blöderweise gar nichts, vor allem nicht diese Einheit von Mutter und Kind. Das hat jetzt das Schicksal besorgt. Vor zwei Jahren zeigte sich: Maria ist unrettbar erkrankt. Gerade als Rebecca 18 wurde, offiziell volljährig.

„Ich frage meine Mutter auch nicht...“

Faktisch bedeutet das: Vorsprechen beim Amtsgericht, um gesetzlicher Betreuer zu werden. Zumindest, was Geld, Gesundheit, Behörden und Wohnort angeht. Und ganz ungefragt erzählt der Rechtspfleger: Neulich sei eine Frau bei ihm gewesen, total entrüstet. Ihr Sohn sei auf der Ferienfreizeit mit einer Frau auf einem Zimmer gewesen. Seine Frage: „Und wie alt ist ihr Sohn?“ „42“. Er: „Ich bin 47 und frage meine Mutter auch nicht mehr, wenn ich mit einer Frau in einem Zimmer schlafe.“

Maria und ich haben Rebecca also erklärt, was wir selbst nicht ganz glauben konnten wollten: Dass man mit 18 erwachsen ist und auszieht, ein neues Zuhause findet. Auch, wenn das nicht gelb gestrichen ist und keine Schlafzimmerdecke mit Sternchentapete hat.

Keine Sternchentapete mehr an der Decke – aber dafür jetzt eine Discokugel – frisch montiert. 
Keine Sternchentapete mehr an der Decke – aber dafür jetzt eine Discokugel – frisch montiert.  © Herm

Zunächst hat Rebecca uns mal wieder gezeigt, wie klug sie ist und wie viel Willensstärke sie hat, wenn es darauf ankommt. Als Maria im Krankenhaus war oder bettlägerig hat sie den Helferinnen und Helfern, die uns zur Seite standen, gezeigt, was sie braucht, wo ihr Brei ist, ihre Medikamente sind und ihre Bücher zum Vorlesen und die ungezählten Memory-Spiele.

Nach einigen Monaten hat sie tatsächlich ein neues Zuhause gefunden. Eine Wohngemeinschaft mit zwölf Menschen, in einem Natursteinhaus mit Garten, nahe am See und fußläufig an zwei Eisdielen. Wo sie am liebsten auch noch bei Minustemperaturen Himbeer- oder Erdbeereis löffeln würde – und am Ende mit Papas Portemonnaie und zwei Umarmungen bezahlt.

Es ist ein Segen, in diesem Land zu leben

Es ist ein Segen, dass ihre Mutter Maria noch erlebt hat, wie Rebecca ihr neues Zuhause kennen- und lieben gelernt hat. Es ist ein Segen, in einem Land zu leben, das reich genug ist, Menschen mit Behinderung ein solches Leben zu ermöglichen. Und es ist ein Segen, dass es so viele Menschen gibt, die ihre Arbeit in Kliniken, Heimen, Wohngruppen mit Herz und Hingabe leisten. Was sie machen, sollte vielfach besser bezahlt werden. Wie sie es machen, wird unbezahlbar bleiben. Vielleicht kann Rebeccas Lachen und ihre Umarmung ihnen etwas davon zurückgeben.

Raus in den Schnee – und dann am liebsten Eis essen. Oder Reiten. Oder Karussell..Oder Shoppen.   
Raus in den Schnee – und dann am liebsten Eis essen. Oder Reiten. Oder Karussell..Oder Shoppen.   © Herm

Was auch immer in ihrem Kopf vorgehen mag: Sie darf erst einmal weiter zur Schule gehen, notfalls bis 25. Erstens, weil sie es gerne tut und Ferien langweilig findet. Und zweitens, weil ein bisschen Gewohnheit in den Durcheinander der letzten zwei Jahre ganz gut tut.

Als sie jetzt Geburtstag feierte, haben ihre Mitbewohner einen Brief geschrieben, eine hat ihn vorgelesen: „Danke, dass du mit deiner Fröhlichkeit unsere Seelen berührst“, stand darin. Unter anderem. Ihr Vater muss jetzt damit klarkommen, dass sie ihn fragt, ob sie wieder „Wohnen fahren“ kann, wenn es bei mir zu langweilig ist und einfach nicht genug Besuch kommt.

Beim Unterhaltungswert mit einer 12er-WG voller Menschen mit Rollifahrern, Dauer-Backgammon-Spielern, Fußballfans, Möchtegern-Parteigründern, Männern, die häufiger Röcke tragen als Becky, Katzenmüttern und Geschichtenerfindern mitzuhalten, ist nicht ganz einfach. Papa hat sich überflüssig gemacht, weitgehend. Was bleibt mir? Die Aufgabe, jeden Tag, den ich mit meiner Tochter verbringe, möglichst zum Geschenk zu machen. Nicht nur zu Weihnachten.

>>>REBECCAS ERSTES JAHRZEHNT

  • Vor zehn Jahren, als Rebecca zehn Jahre alt wurde, erschien in der Weihnachtsausgabe der NRZ der Text „Eins zu Null für Rebecca“, der viele Emotionen und Reaktionen auslöste. Sie finden ihn hier: Eins-null für Rebecca.
  • Rebecca hat ein so genanntes Wolf-Hirschhorn-Syndrom, eine genetische Veränderung des vierten Chromosoms, was etwa alle 50000 Geburten einmal auftaucht. Viele Eltern haben Internet-Seiten für ihre Kinder eingerichtet. Basisinfos auf wikipedia: wikipedia.org/wiki/Wolf-Hirschhorn-Syndrom