An Rhein und Ruhr . Der „Morbiditäts- und Sozialatlas“ der Barmer zeigt einen großen Datensatz zur Gesundheit und Krankheit im Land vor - mit spannenden Ergebnissen.

Köln ist gut fürs Herz: In der Domstadt leidet im Schnitt rund jeder fünfte unter Herzkrankheiten, im Bundesschnitt ist es hingegen mehr als jeder Vierte. Solche bis auf die einzelne kreisfreie Stadt oder den Kreis heruntergebrochenen Gesundheitsdaten zeigt der „Morbiditäts- und Sozialatlas“, den die Barmer jetzt vorgestellt hat.

Anhand der Daten ihrer rund neun Millionen Versicherten bundesweit hat die Krankenkasse hochgerechnet, wie es um die Gesundheit und Krankheit der Menschen in den Bundesländern und Kommunen bestellt ist. Für insgesamt 35 Diagnosen ist im Detail aufgeschlüsselt, wie oft sie im Landkreis oder der Großstadt auftritt und wie stark welche Altersgruppe, welches Geschlecht und Menschen abhängig von Bildung und Einkommen betroffen sind.

Nordrhein-Westfalen als Ganzes schneidet kaum besser oder schlechter ab als Deutschland insgesamt - rechnet man den Altersfaktor raus, sind die Menschen an Rhein und Ruhr minimal kränker. Blickt man in die Regionen, zeigen sich deutliche Unterschiede. Entlang des Rheins sind die Menschen deutlich herzgesünder. Die großen Ruhrgebietsstädte schneiden – wie so oft – im Ranking eher schlecht ab.

Das beste Rezept wäre der Blankoscheck

Eigentlich, so könnte man überspitzt sagen, müsste Ihnen Ihre Hausärztin oder Ihr Hausarzt bei jedem Besuch einen Blankoscheck ausstellen statt eines Rezepts. Denn: Der wesentliche Faktor in der Frage, wie gesund jemand ist, ist das Einkommen. Je reicher, desto gesünder – diesen Zusammenhang zeigt der Morbiditäts- und Sozialatlas relativ eindeutig auf.

Barmer Landesgeschäftsführer NRW: Heiner Beckmann stellte jetzt den „Morbiditäts- und Sozialatlas“ der Barmer vor.
Barmer Landesgeschäftsführer NRW: Heiner Beckmann stellte jetzt den „Morbiditäts- und Sozialatlas“ der Barmer vor. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Was die Datensätze jedoch nicht beantworten können, ist die Frage, was Ursache und was Wirkung ist: Können Menschen mit höherem Einkommen sich einfach die angenehmeren Urlaube leisten und investieren mehr Geld in Gesundheitskurse und Fitnessstudios? Oder sind Menschen mit einer robusteren Gesundheit einfach erfolgreicher in Ausbildung und Beruf und erreichen so ein höheres Einkommen?

Ein ähnlicher Zusammenhang gilt für Bildung und Gesundheit – ziemlich schlüssig, weil gute Bildung bekanntlich auch zu guten Berufen und damit zu einem eher höheren Einkommen führt.

So ist der „Morbiditäts- und Sozialatlas“ ein erster wichtiger Schritt: Es gibt – bei neun Millionen Versicherten im Land hat man eine mehr als belastbare Stichprobe – einen sehr guten Überblick darüber, wer wo erkrankt ist.

Es wird beispielsweise deutlich, was wir alle schon oft genug gelesen haben: Die Menschen in den großen Ruhrgebietsstädten sind deutlich kränker als im Bundes- und Landesschnitt. Auch dann noch, wenn man den Altersfaktor herausrechnet. Mutmaßlich besteht der Zusammenhang vor allem zum geringen Bildungs- und Einkommensniveau. Dazu kommt ein höherer Anteil an Übergewichtigen und eher riskantem Drogen- und Alkoholkonsum.

In Duisburg und Oberhausen häufen sich Lebererkrankungen

Unterm Strich: Die Krankheitslast ist in NRW im Kreis Paderborn rund 12 Prozent geringer als im Bundesschnitt, in Gelsenkirchen liegt sie um 16,4 Prozent höher. Grob gesprochen lebt es sich im Süd-Osten des Landes offenbar gesünder. Ebenfalls relativ lang leben die Menschen in Köln und Bonn, die Kreise Kleve und Borken schließen die Top Ten ab. Weniger gut geht es den Menschen beispielsweise in Duisburg und Essen, sie kommen auf den viert- und fünftletzten Platz im Land. Wer das im Detail nachlesen möchte von Muskel-Skelett-Erkrankungen bis Hautkrebs, wird unter bifg.de fündig.

Der Datenschatz ist immens. Für 35 Diagnosen lassen sich die Daten in allen Landkreisen einsehen. Faktoren wie Alter, Geschlecht, Bildung und Sozialstatus rein- und rausrechnen. Dabei es gibt auch Überraschungen im Detail: Warum beispielsweise leiden die Menschen im Südwesten NRWs deutlich stärker am (übrigens typisch für Frauen in sozialen Berufen) Leiden „Kopfschmerz und Migräne“? Weniger einen Kopf machen sich offenbar die Solingerinnen und Düsseldorferinnen (da gibt es ein klares Geschlechtergefälle).

Aber warum gibt es in Duisburg und Oberhausen bis zu 40 Prozent höhere Werte bei den Erkrankungen der Leber? Im Alkoholkonsum und dem sozialen Mix dürfte sich die Bevölkerung nicht wesentlich von der in Herne, Essen, Bochum oder Dortmund unterscheiden. Doch selbst zwischen Bochum und Dortmund gibt es deutliche Unterschiede in der Rate der Herzkrankheiten. Wäre mal eine Frage, wo mehr Kardiologen niedergelassen sind und ob in der einen Stadt schlicht mehr diagnostiziert wird.

Und warum haben die Menschen in Köln nicht nur weniger Herzprobleme, sondern auch weniger Rückenschmerzen? Weil sie auch weniger adipös sind?

Auch Barmer-Landesgeschäftsführer Heiner Beckmann sieht in der Veröffentlichung des Atlanten eher den Auftakt als das Finale: „Wir müssen da noch tiefer forschen. Wir wollen die Morbidität sichtbar machen, können aber noch nicht klar sagen, was Ursache und Wirkung ist. Wir wollen Transparenz herstellen und mögliche Forschungsansätze aufzeigen.“

Es fehlt Klarheit, was Ursache und was Wirkung ist

Was also nach der umfangreichen Datenerhebung noch fehlt, sind: klare Diagnosen, deutliches Herausstellen von Ursache und Wirkung, was Umwelteinflüsse, Ärztedichte, soziale Faktoren, Lebensgewohnheiten angeht. Denn erst dann kann man sinnvoll ermitteln, welche Ansätze in welcher Region den Menschen dort ein deutliches Plus an Gesundheit und Lebensqualität brächte. Nur dann wird aus einem Datenfriedhof wie dem Morbiditätsatlas ein Analyse -Instrument für künftige Gesundheitspolitik.

Wenn beispielsweise die Erkrankungen an HIV und Aids in Düsseldorf um 141 und in Köln um 288 Prozent über dem Bundesschnitt liegen, könnte das auch heißen, dass Menschen mit dieser Erkrankung bewusst dorthin ziehen, weil sie dort die bestmögliche Therapie erwarten

>>> Die Gesamtmorbidität (relative Abweichung vom Bund)

  • Platz 1: Gelsenkirchen (16,4 Prozent)
  • Platz 2: Herne (15,1 Prozent)
  • Platz 3: Bottrop (12,5 Prozent)
  • Platz 4: Essen (10,6 Prozent)
  • Platz 5: Duisburg (10,1 Prozent)
  • Platz 6: Landkreis Heinsberg (9,1 Prozent)
  • Platz 7: Landkreis Unna (8,8 Prozent)
  • Platz 8: Landkreis Euskirchen (7,8 Prozent)
  • Platz 9: Städteregion Aachen (7,2 Prozent)
  • Platz 10: Hamm (7,1 Prozent)

Erklärung: Die Morbidität gibt das Verhältnis der Zahl der Erkrankten zur Bevölkerung innerhalb einer Stadt bzw. einem Kreis an. Bedeutet: In der Stadt Gelsenkirchen liegt die Sterblichkeit 16,4 Prozent über dem Bundesdurchschnitt und damit im NRW-Vergleich am höchsten.

Alle weiteren Daten der Barmer-Studie finden Sie unter www.bifg.de/atlas.