Mülheim. Bäume pflanzen ist wichtig, aber alte Bäume zu erhalten noch viel wichtiger. Warum, erklärt Baumpfleger Gernot Fischer.

Gernot Fischer schaut zufrieden in die Kronen der Platanen an der Karlsruher Straße. Hier in Mülheim-Speldorf recken die rund 60 bis 70 Jahre alten Bäume ihre Äste und Zweige bis zu 25 Meter in den Himmel. „Altbäume haben einen riesigen Wert“, sagt Fischer. „Sie binden Staub, sie spenden Schatten und Sauerstoff, sie bindenFeuchtigkeit und Kohlendioxid. Sie bilden eine Lebensgemeinschaft mit Pilzen, Insekten, Vögeln und anderen Tieren, sie lockern den Boden und leisten im Jahr für die Abkühlung genauso viel wie eine Klimaanlage mit rund 92500 Kilowattstunden.“ Kurz kalkuliert – das wäre eine Stromrechnung von grob 37.000 Euro.

Gut, niemand stellt, eine Klimaanlage auf die Straße, aber die 40 Euro, die sich eine NRW-Kommune Straßenbäume im Schnitt pro Baum und Jahr kosten lässt, wirken dagegen wie ein Almosen. Noch mehr auf den Baum bringt es den sonst so ruhigen Gernot Fischer nur, wenn irgendwer argumentiert, man könne, wenn wie in Kamp-Lintfort, eine Lindenallee abräumen und Ersatzbäume setzen oder Städte beim Baumschutz auf Zeit spielen. „Zunächst müsste man mindestens fünf oder sechs Bäume pflanzen, um das ansatzweise zu kompensieren.

Wer heute frisch aus der Baumschule kommt, hat einen schwereren Stand

Hinzu kommt, dass Bäume es heute deutlich schwerer haben, eine ähnliche Größe und Leistungsfähigkeit erreichen“, sagt Fischer und blickt auf zwei kleine Platanen, gerade mal der Baumschule entwachsen. Acht bis zehn Jahre alt müssen sie hier neben den großen Alten das Wachsen lernen.

Gernot Fischer, der Retter der Stadtbäume, steht auf der Karslruherstraße in Mülheim. Foto: Fabian Strauch / FUNKE Foto Services GmbH
Gernot Fischer, der Retter der Stadtbäume, steht auf der Karslruherstraße in Mülheim. Foto: Fabian Strauch / FUNKE Foto Services GmbH © FUNKE Foto Services | Fabian Strauch

„Als die Bäume gepflanzt wurden, war der Boden ein völlig anderer“, sagt Fischer. Straßenbau heute arbeite nicht mehr mit Pflaster mit Fugen, Geh- und Radwege, selbst Abstellplätze für Autos werden lückenlos versiegelt, Straßen haben einen fast meterdicken, hochverdichteten Untergrund. „Hochverdichtete Böden enthalten weder Sauerstoff noch Mikroorganismen in ausreichender Zahl“, so Fischer. Die Bäume müssen kämpfen – und die jungen Bäume ihr Wurzelwerk so tief in die Erde senken, dass sie tauglichen Feuchtigkeit finden.

„Deswegen ist gar nicht sicher, ob das oberflächennahe Gießen den Bäumen dauerhaft hilft“, so Fischer. Die Baumwurzeln könnten sich quasi an die Droge von oben gewöhnen – und zu flach wurzeln. „Wer Bäume gießt, muss theoretisch jeden Tag rund 200 Liter an die Wurzeln gießen“, sagt Fischer. Da werden auch dem engagiertesten Baumpaten die Arme schwer. Und dennoch: in Sommern wie diesen ist das besser als nichts.

Auch die Platanen in Speldorf haben Trockenstress: Die Rinde pellt sich wie unter südlicher Sonne, die Jungbäume tragen Sonnenschutz: weiß angestrichene Stämme sollen die Rinde schützen, damit sie nicht spröde und rissig wird – ab 47 Grad verbrennt die Rinde.

Die Karlsruher Straße in Speldorf hat der Fachmann für Baumpflege, mitgeplant. Statt winziger Baumscheiben, der kleinen Freiflächen im Pflaster rings um den Stamm, gibt es größere entsiegelte Flächen. Eine wasserdurchlässige Splittdecke sorgt für den Kompromiss: Autos lassen sich unter den Bäumen abstellen, aber der Boden bleibt wasserdurchlässig.

Zuwanderung von auswärtigen Bäumen? Fischer ist skeptisch

Und was hält Fischer von den Überlegungen in vielen Städten, künftig mit anderen Baumarten auf das sich ändernden Klima zu reagieren? Er wiegt den Kopf. „Nicht einfach. Es gab verschiedentlich Versuche mit Bäumen aus Südostasien oder aus Südeuropa. München hat dann in einer einzigen richtig kalte Winternacht einen großen Teil der Straßenbäume verloren.“

Folglich, so Fischer, probiert man es jetzt mit Bäumen aus Slowenien, Südalpenlage. Die kennen Frost und Hitze. Dann kommt sein „aber“: Man sollte nicht nur keine alten Bäume verpflanzen, auch Baumartenmigration bringt gewissermaßen Integrationsprobleme mit sich. Zum einen: Land- und Stadtbäume verhalten sich völlig unterschiedlich. Bäume, die in der Waldgemeinschaft mit wenig Wasser auskommen, können an Einzelstandorten durchaus wassersüchtig werden – die Douglasie ist so ein Beispiel. Fischer betont: „Die Bäume, die in unserer Region seit Jahrhunderten wachsen, haben die mittelalterliche Warmzeit überstanden und die Kleine Eiszeit im 16. bis Anfang des 19. Jahrhunderta. Hinzu kommt: von der Amöbe bis zum Maulwurf ist das Ökosystem auf diese Bäume abgestimmt.“ Jeder Baum ist ein kleines Biotop mit eigenen Mikrobiom – so wie die Darmflora für den Menschen.

Daher ist es wichtiger, alte Bäume auch bei Neuanlage von Straßen zu retten. Dafür hat sich sein Fachbüro einiges an Techniken angeeignet. Fischer und sein Team können Bäume tieferlegen: Wurzeln werden nicht weggebaggert, sondern behutsam freigespült und dann tiefer ins Erdreich zurückgebettet.

Manchmal hilft es, dem Baum den Wind aus der Segelfläche zu nehmen

Wenn doch einmal Wurzeln gekappt werden, gibt es einen Pilzverband, der die Wunde schließt. Ohnehin: Fischer rettet auch Bäume, denen es nicht gut geht. Ist das Wurzelwerk zu sehr geschädigt, geht es dem Bauman die Krone: Mit einem Spanngurt, Messgeräten und einem Zug von bis zu zwei Tonnen prüft er die Standfestigkeit von Bäumen – notfalls muss dem Baum ein wenig Segelfläche genommen werden – Äste und Blattwerk – damit seine Wurzeln ihn beim nächsten Sturm im Boden halten. Aber besser ein geduckter, geschrumpfter Baum als ein gefällter Baum – dafür sind die gewachsenen Riesen zu wertvoll.

Im Moment ist Fischer und sein Team bei der Planung des Berthold-Beitz-Boulevards in Essen beteiligt, einer Straße, die auf einer alten Industriebrache neu angelegt wird. „Schwieriger Boden“, sagt Fischer. Verdichtet, womöglich mit Altlasten versetzt: Jungbäume werden es hier schwer haben. Auch am vor zwölf Jahren angelegten ersten Teilstück des Boulevards haben es viele Bäume nicht geschafft. Fischer setzt bei Neuanpflanzungen nun auf einen Mix: Wieder einige Platanen, aber auch amerikanische Amberbäume.

Also doch ein paar Zuwanderer, hitzeresistenter und damit vielleicht zukunftssicherer. Denn anders als die meisten von uns, kann Fischer zwar den Bäumen unter die Wurzel und ins Holz schauen – aber was das Klima der nächsten Jahrzehnte und Jahrhunderte den heute gepflanzten Bäumen alles zumuten wird, kann auch er kaum absehen