An Rhein und Ruhr. Um die Verbeamtung nicht aufs Spiel zu setzen, vertuschen viele junge Lehrkräfte in NRW psychische Erkrankungen. Wie Experten die Sorge bewerten.

„Ich muss mich entscheiden – zwischen meiner Gesundheit und meiner beruflichen Zukunft.“ Vor dieser Wahl sieht sich Lisa (Name geändert) aus Moers. Die 24-Jährige ist Lehreramtsstudentin kurz vor dem Referendariat. Und wegen einer Angststörung in psychotherapeutischer Behandlung. Letzteres könnte bei der Eignungsuntersuchung beim Amtsarzt noch zum Problem werden, wenn sie verbeamtet werden möchte. Das sagt zumindest Lisas Therapeutin. Abgeschlossene Therapien hätten in der Vergangenheit schon häufiger zu Komplikationen geführt. Krankenkassen müssen Amtsärzte über seelische Erkrankungen informieren, sobald aus einer Kurzzeit- eine Langzeittherapie wird.

Genau an dieser Schwelle befindet sich Lisa. Wenn sie ihre Verbeamtung nicht aufs Spiel setzen möchte, müsste sie die Behandlung aus eigener Tasche zahlen oder sie abbrechen. Und das, obwohl sie diese weiterhin benötigt. „Es ärgert mich tierisch, dass mir solche Steine in den Weg gelegt werden. Dabei sorge ich doch jetzt dafür, gesund in meinen späteren Beruf zu starten.“

Lehrermangel NRW: 4400 Stellen unbesetzt, Nachwuchs dringend benötigt

Mit diesen Sorgen ist die junge Frau nicht allein. Bei ihren Kommilitonen an der Uni war diese Angst bereits Thema. Auch Anwärter anderer Berufsfelder wie Jura oder Sozialwissenschaften schreiben in Online-Foren von ähnlichen Sorgen. Nicht alle können mit dem Risiko eines negativen Gutachtens umgehen. Manche brechen ihre Therapie ab, andere ihr Studium.

„Angesichts des eklatanten Lehrermangels, allein in NRW sind 4400 Stellen unbesetzt, können wir es uns nicht leisten, dass sich junge Leute gegen den Lehrberuf entscheiden. Nachwuchskräfte werden dringend benötigt“, sagt Stephan Osterhage-Klingler, stellv. Vorsitzender der Bildungsgewerkschaft GEW, die vermehrt Anfragen zur Folge von Therapien für die Verbeamtung wahrnimmt.

Verbeamtung und Therapie: Gewerkschaft sieht psychische Erkrankungen nicht als Ausschlusskriterium

Fehlende Stellen mit Menschen zu besetzen, die eine Psychotherapie absolviert haben, hält Osterhage-Klingler – entgegen der Meinung einiger Eltern – in vielen Fällen für unbedenklich: „Nicht jede abgeschlossene Therapie ist ein Indikator dafür, dass jemand dauerhaft psychische Schwierigkeiten hat.“ Gerade im Referendariat herrsche ein hoher Druck durch die Doppelbelastung aus Arbeitsalltag und Prüfungen. „Auch die Aufarbeitung eines Trauerfalls sollte nicht dazu führen, dass man nicht verbeamtet wird.“ Das belegen Urteile des Bundesverwaltungsgerichtes, nach denen es eine klare Prognose für zukünftige Einschränkungen bis hin zur Dienstunfähigkeit geben muss.

Wie häufig die Verbeamtung aus diesem Grund verwehrt wird, will das NRW-Schulministerium aufgrund der Sensibilität der Daten nicht mitteilen. Anlass zur Sorge bestehe aber nicht: „Die Tatsache, dass eine psychische Erkrankung vorliegt oder -lag bzw. eine psychotherapeutische Behandlung absolviert wurde, ist für sich genommen noch kein Hindernis für die Berufung in ein Beamtenverhältnis“, hieß es auf NRZ-Anfrage aus dem Schulministerium.

Amtsarzt aus Duisburg empfiehlt Therapien sogar für die Verbeamtung

Das Gesundheitsamt der Stadt Duisburg, das ebendiese Gutachten durchführt, geht sogar noch einen Schritt weiter: „Erkrankungen und Beschwerden werden durch Therapie und Behandlung gelindert und verbessert. Daher ist ein Behandlung von jeglichen Beschwerden / Erkrankungen, auch im Hinblick auf die Einstellungsbegutachtung, immer dringend zu empfehlen.“ Negative Gutachten würden sogar nur „sehr selten erstellt“.

Doch woher kommt dann diese Angst vieler junger Menschen? Das Problem liege vor allem in der mangelnden Aufklärung, meint Harald Kaßen, Leiter der psychologischen Beratungsstelle am Studierendenwerk mit Sitz an der Uni Duisburg-Essen. Diese Stelle bietet jungen Menschen eine Erstberatung, die aber kein vollwertiger Ersatz für eine Therapie sei. Die Befürchtung, nicht verbeamtet zu werden, habe sich als Horrorszenario rumgesprochen und ist auch Kaßen bestens bekannt: „99 Prozent der Lehramtsstudierenden, die zu unserer Beratungsstelle kommen, machen diese Angst zum Thema. Ich kann mir vorstellen, dass sich Leute aus Sorge davor, dass das Gespräch archiviert werden könnte, erst gar keine Hilfe suchen.“

Verbeamtung: Angestellte Lehrkräfte verdienen deutlich weniger

Dennoch sei diese Befürchtung nicht gänzlich unbegründet: „Bei schweren Erkrankungen wie einer wiederkehrenden Depression ist nicht auszuschließen, dass es zu Problemen bei der Verbeamtung kommt.“ Andere Krankheiten wie Anpassungs- oder Angststörungen seien leichter behandelbar. Allerdings nur dann, wenn eine notwendige Psychotherapie nicht zu lange aufgeschoben wird. Chronische Folgeerkrankungen können daraus resultieren, so Kaßen.

Denjenigen, denen die Verbeamtung verwehrt wird, bleibt laut Ministerium die Einstellung im Tarifverhältnis. Abgesehen vom Verzicht auf private Krankenversicherung liegt der Unterschied im finanziellen Bereich. Laut aktuellen Daten der GEW verdient eine verbeamtete Lehrkraft zum Berufseinstieg an einer weiterführenden Schule rund 3300 Euro netto im Monat. Für angestellte Kolleginnen und Kollegen mit identischen Aufgaben sind es etwa 750 Euro weniger.